Ein Erotomane im Boxring - Schrekers Gezeichnete in der Bayerischen Staatsoper

 

Viel Orchester bekam man fürs Geld, leider auch viel Libretto. Ob der Librettist Schreker so ausführlich wurde, weil er seine Musik redselig haben wollte, oder ob eine ungezügelte Textproduktion die redselige Musik nach sich zog, ist nicht leicht zu entscheiden. Daß er bei der Textdichtung bekanntermaßen planlos vorging, war offensichtlich von Übel. Jedenfalls sind Sujet und Dramaturgie das Problem des Werkes, und dem hilft auch die erwartbar virtuose Instrumentation nicht auf. Wenn Strauss einst selbstbewußt erklärte, er könne auch das Telefon vertonen, meinte er gewissermaßen das münchner Telefonbuch. Schreker aber kann das wiener Telefonbuch vertonen. In dem riesigen Apparat fallen ein Klavier, Celesta, zwei Harfen und ein Schlagwerk auf, das hier aus Platzmangel in einer Proszeniumsloge untergebracht werden mußte. Auch die Gelegenheit zu einem Fernorchester wurde nicht verschmäht. Und trotzdem bleibt all der Aufwand schal, weil die Handlung im schlechten Sinne spekulativ ist und Schreker offenbar auch selbst gern das Typenschild Erotomane akzeptierte.

In dem sehr instruktiven Monolog Mein Charakterbild läßt der Regisseur vor dem dritten Akt Alviano als Schreker selbst seine musikdramatische Position beschreiben, selbstkritisch und fremdkritisch, und es wird auch begreiflich, was man als das Jüdische in diesem Werk und Schrekers Opernschaffen erkennen konnte. Die Ausgrabung der Gezeichneten ein Jahrhundert nach der Entstehung zeigt jeden­falls, daß hier keine Entdeckung eines zu Unrecht vergessenen Werkes stattfindet. Einfach gesagt: Mächtigere überragen ihn. Auf den Beginn des 20. Jhdts. bezogen sind dies einerseits Straussens Salome und Elektra mit zwei starken Frauenfiguren in archaischen, antiken Tragödien und einer exzeptionellen Musik und andererseits Bergs Lulu nach Wedekind, die die Tragödie der femme fatale richtig zu Ende denkt und musikalisch ihresgleichen sucht. Bereits der Schrekerschüler Ernst Krenek hat diese Unterlegenheit gegenüber Wedekind bemerkt: All dieses kindische Geplapper von der wunderschönen Verderbtheit der menschlichen Seele hatte etwas von Wedekind, aber nichts von der großartigen Ironie…, die für diesen teuflisch phosphoreszierenden Genius des deutschen Theaters so kennzeichnend sind. Th. W. Adorno nannte Schreker schlicht „pubertär“. Ein etwas weiterer geschichtlicher Horizont nimmt natürlich Wagners Thannhäuser in den Blick, den Venusberg, Klingsors Zaubergarten im Parsifal, aber auch den Trivialmythos Phantom der Oper von G. Leroux sowie Hugos Quasimodo.

Bedauerlicherweise für Schreker hat Wagner im Ring mit Alberichs Fluch die metaphysische Dimension des Liebesverzichtes aus Häßlichkeit bereits metaphysisch ausgelotet. Alle anderen Motivierungen können nur schwächer ausfallen, und bei Schreker sind sie das offensichtlich. Umständlich wird erzählt, wie Alviano allmählich zu Carlottas Liebe zu ihm Zutrauen faßt, ihr Beischlafangebot aber nicht annimmt und sie damit gewissermaßen dem draufgängerischen Tamare überläßt. Alviano inszeniert eine selbsterfüllende Prophezeihung, während seine Mitwisserschaft an der Mädchenräuberei und seine Urheberschaft an der Liebesgrotte unzureichend motiviert werden. Gewissermaßen spiegel­bildlich bleibt Carlottas Tragödie unterbelichtet, ein offenbar vom Idealismus fehlgeleitetes Mädchen, das Seelen malen will, sich wohl hauptsächlich aus Mitleid dem Krüppel Alviano zuwendet, dann aber dem Verführer Tamare zum Opfer fällt, weil er das Tier in ihr zu erwecken versteht, von dem sie selbst nichts wußte. Alviano ist sozusagen ein Möchtegern-Wüstling, Carlotta eine Möchte­gern-Sama­riterin. Noch etwas schärfer betrachtet: Sie liebt Alviano nur deshalb, weil sie - als Malerin - über­haupt noch nicht sehen gelernt hat. In der  - vorgeblichen - Renaissance malte man keine Seelen; das kam erst in der Romantik, und auch da waren es noch vor-freudianische Seelen, also nichts, womit Schreker noch ästhetisch legitim hätte hantieren dürfen.

Es leuchtet nicht ein, weshalb Alviano mit viel Geld die Liebesgrotte bauen ließ, die seinen triebhaften Kumpanen als Zuflucht ihrer sexuellen Exzesse dient, und sie dann der Stadt, d.h. der sittsamen Bürgerschaft Genuas zum Geschenk machen will. Er selbst hatte nie einen Nutzen davon, und die Bürgerschaft braucht es nicht, jedenfalls nicht mit Nymphen und anderen unmoralischen Wesen bestückt, abgesehen davon, daß die Bürger natürlich per definitionem ihre legale Triebabfuhr in der Ehe und ihre illegale mit Geliebten erhalten und zu sichern wissen. So ist das einzige, was Alviano erreicht, seine bisherigen Kumpane, die ihr Refugium verlören, gegen sich aufzubringen. Das wird der Stoff für eine handfeste, aber routiniert-langweilige Intrige. Die Mädchenräuber intervenieren bei Herzog Adorno, dem von Amts wegen ein Veto zusteht, und Alviano sieht sich alsbald einer Anklage ausgesetzt. Man hat unweigerlich den Eindruck, Schreker sei es hier lediglich um den äußeren Effekt einer Tribunal-Szene mit großem Chor und Lebensgefahr gegangen. Rienzi läßt grüßen, der letzte der Tribunen beruft sich nochmals auf das Volk, das ihn freilich gar nicht versteht.

Der im Dreieck Carlotta-Alviano-Tamare gebildete Konflikt ist psychologisch angelegt, aber nicht bestimmt genug durchgeführt. Tamares Siegesarie nach der Liebesnacht wäre gewissermaßen als eine Spiegelung zum Credo des Jago bei Verdi anzusehen, doch dann stellt sich unversehens die Frage, was es denn bedeuten solle, diese Frau für diese Nacht "besessen" zu haben, sie aber weder ehelichen zu wollen, noch zu können und dieses Abenteuer absehbar mit dem Leben bezahlen zu müssen.

Da schiebt Schreker die Psychologie beseite und schlägt wieder in den traditionellen Ehrbegriff um, wofür dann auch wieder die behauptete Renaissance als Handlungszeit herangezogen wird. Alviano muß die "Entehrung" Carlottas - die sie aber doch freiwillig eingegangen ist - sühnen, obwohl er ihr weiter gar nicht verpflichtet ist, und nach dem Erstechen des überlegenen Nebenbuhlers flüchtet er sich aus Furcht vor Strafe in den Wahnsinn. Ein höchst konventio­nelles, um nicht zu sagen: billiges Ende.

Regisseur Krzysztof Warlikowski tut ein Übriges, diese Inkongruenzen zu vermehren, statt sie aufzulösen. Die erwähnte Siegesarie etwa wird völlig kontraintuitiv auf die Bühne gebracht: "Dass etwa Maltmans Tamare nach seiner exzessiven Liebesnacht in Unterhosen von hinten gekrochen kommen und sich zu seinem inhaltlich menschenverachtenden, dazu musik­dramatisch erschreckend packenden Lebemann-Bekenntnis mühselig Hose, Hemd und Schuhe anziehen muss, war so ein Negativhöhepunkt der Inszenierung." (Wolf-Dieter Peter nmz 2.7.2017).

Vorher glaubt Krzysztof Warlikowski, die Männlichkeitsvorstellungen der Mädchenräuber mit einem veritablen Boxring im Hintergrund und echten Boxern des TSV 1860 München anschaulich machen zu müssen. Das ist einigermaßen albern. In anderer Weise entgleist er, wenn er zur Besichtigungstour des Volkes einen tendenziösen Gang durch die Filmgeschichte unternimmt, während die Musik und die von Schreker vorgesehene Szenerie gänzlich anders orientiert sind. Thema der großflächigen Videopro­jektion sind ganz verschiedene Aspekte von Besonderung und Transhumanität, die wiederum mit Schrekers Thema banaler ästhetischer Benachteiligung eines Mannes nichts zu tun haben. Der Golem ist eine von Juden erfundene Retterfigur, das Phantom der Oper eine frühe Figuration des Unbewußten in der Kunst, Frankensteins Geschöpf eine prometheische Gestalt und Nosferatu ein Abkömmling des Vampirmythos Stokers. Alvianos zeitweilige Verhüllung durch ein Tuch über dem Kopf erinnert an Lynchs Elefantenmenschen. Daß Krzysztof Warlikowski das Volk durchweg mit Mäuseköpfen ausstattet, soll an das Buch des Zeichners Art Spiegelmann anknüpfen, in dem dieser sein Volk in solch tierischer Allegorie die Schrecken der NS-Zeit überleben läßt. Mit Schrekers genueser Stadtbevölkerung hat das ebenfalls nicht das Geringste zu tun, ist auch nur ganz lose mit Schrekers Person verbunden, weil die Oper ja viel früher entstanden ist. Es paßt also in dieser Aufführung sehr vieles nicht zusammen.

Was bereits im Libretto an Handlungssträngen und -motiven nicht zusammen paßt, ist aber noch nicht alles, was diese Oper problematisch macht. Schreker fehlt offenbar auch der musikdramatische Instinkt. Über weite Strecken wird Handlung nur erzählt, nacherzählt, also das, was man Wagner nur an wenigen Stellen vorwerfen konnte, bei Gurnemanz im Parsifal und gelegentlich im Ring. Schreker bemüht sich jedoch erst gar nicht, Dramatik aus der Handlung zu entwickeln, weil sein Konzept ja von Anfang an nicht konsistent ist.

Das Sängerensemble bewältigte die stimmlich enormen Anforderungen weitgehend überzeugend. John Daszak gab den unglücklichen Alviano mit Ausdauer, Tomasz Konieczny als Herzog Adorno ließ unangenehm verfärbte Vokale hören, und an Catherine Naglestad können sich die Geister scheiden. Daß ihre Carlotta walkürenhaft-hochdramatisch auftritt, mag man für übertrieben halten, doch ist ebenso gut möglich, daß Schreker hier - unbewußt - tatsächlich seine Brünnhilde komponieren wollte. Natürlich paßt ihre erotische Unerfahrenheit nicht dazu, aber die Figur ist ja insgesamt inkonsistent. Markus Stenz am Dirigentenpult hatte genug zu tun und wurde den Sängern ebenso gerecht wie der verzweigten Orchesterpartitur. Daß aber akustisch nicht alles das hörbar gemacht werden konnte, was dort enthalten ist, beispielsweise Unterschied und Zusammenklang von Klavier, Celesta und zwei Harfen am Beginn der Ouvertüre, ist den beengten Raumverhältnissen im Graben geschuldet.