Laudatio für Boris Chasanow

Verehrte ZuhörerInnen!

Anhand der großen Erzählung Die Königsstunde, die im gleichnamigen Erzählband von 1990 enthalten ist, will ich einige Eigenschaften der Literatur von Boris Chasanow näher betrachten, den wir heute in unserer Mitte haben.

Chasanow führt in dieser Erzählung eine Bemerkung des (wirklichen) dänischen Königs Christians X. im Jahre 1943 aus, von der ein historisch informierter Leser wohl schon mal gehört hat, nämlich dessen Absicht, sich im Falle einer erzwungenen ethnischen Diskriminierung ebenfalls den Judenstern anzuheften. Was historisch eine bloße Absichtserklärung war, kann der Dichter in Wirklichkeit, in seine vorgestellte Wirklichkeit verwandeln. Vielleicht unbeabsichtigt, vielleicht aber unbewußt schon bei Christian selbst wirkt hier ein Motiv fort, das der Nationaldichter Hans Christian Andersen vorgetragen hat, als Des Kaisers neue Kleider. Dort ist die Idee ja ungefähr die: was der Kaiser trägt, ist Gesetz. Auch Anstößiges wird so geadelt und vom Hofstaat als Maßstab (hin)genommen. Bei Chasanows König Sedrik ist es der anstößige und ausstoßende Judenstern, der hier dezent Hexagramm genannt wird. Erweckt wird dadurch der Nachahmungstrieb, der alle Bewohner in der Öffentlichkeit ebenfalls zu diesem Merkmal greifen läßt und so die ursprüngliche Diskriminationsabsicht zu nichte macht. Das Volk stellt damit seine arische Herkunft in Abrede, die ihm die Wertschätzung und milde Behandlung durch den Okkupator gesichert hat.

Daß der König seinen Affront mit dem Leben bezahlt, erwähnt Chasanow mit frappierender Beiläufigkeit. Mindestens ebenso zu rühmen ist aber die philosophische Reflexion, mit der er diese Tat umgibt und so weit über die plumpe Fiktion eines Gutmenschen hinausgreift. Er nimmt auf den Existenzialismus Bezug und sieht Sedriks Tat als absurde Handlung. Sie bedeutet, " daß derjenige, der sich so zu handeln entschlossen hat, selbst lebendige Wahrheit geworden ist. Ein Mensch, der einen sinnlosen Entschluß gefaßt hat, tritt damit an die Statt Gottes. Denn nur Gott allein steht es zu, die Wirklichkeit zu irgnorieren." S. 267 So rettet Chasanow die menschliche Würde und Freiheit selbst in aussichtsloser Bedrängnis.

Der Autor behauptet im Vorwort, daß es sich bei dem hier geschilderten Schauplatz nicht um Dänemark handele. Tatsächlich läßt sich dies mit einer Textstelle, die aber die Nichtidentität nur behauptet, belegen, aber es gibt genügend Gegenargumente. Der durch Hamlet berühmte Ort Helsingör wird erwähnt. Ein anderer realer Ort Ahlefeldvej erscheint im Text als Ahlefeld, und Owschlag ist ein realer Ort in Schleswig, das ja längere Zeit zu Dänemark gehörte. Dazu kommen weitere Indizien, etwa die Verwendung des Namens Kristian für des Königs Sohn, das Motiv des in Island stattfindenden Kongresses (das ja zu Dänemark gehört), und der einfache geographische Umstand, daß es sich um ein nördliches Nachbarland Deutschlands handelt. Wahrscheinlich wird man die recht detaillierte Topographie der Hauptstadt auf Kopenhagen legen können, und dazu sähe ich mich auch insofern veranlaßt, als ich meine letzte Novelle im Kopenhagen Hans Christian Andersens angesiedelt habe (ohne mich freilich um derartige Details zu kümmern). Aber der Kommentator will nicht gegen den Autor rechtbehalten, sondern erkennt und würdigt dessen Absicht, eine historische Situation exemplarisch und überzeitlich gültig darzustellen.

Die russischen Zensoren oder vielmehr Geheimdienstler, die Chasanow 1977 einbestellten, weil sie unbotmäßige Kritik an der Sowjetunion witterten, wußten das sehr gut. "Machen Sie uns doch nichts vor, wir verstehen genau, um welchen Staat es sich handelt." S. 8. Chasanows vermeintlich historisches Erzählen zielt also mühelos in die Gegenwart und in das Selbstverständnis seines damals zwar schon poststalinistischen, aber gleichwohl diktatorisch verfaßten Heimatlandes.

Kleine Bemerkung am Rande: waren die deutschen Zensoren ahnungsloser, als sie Ernst Jüngers Marmorklippen erscheinen ließen, in denen die Gewaltherrschaft literarisch doch zu hinreichender Kenntlichkeit entstellt wird? Oder waltete dort nur die unvorgreifliche, nachwirkende Gnade des Regimes gegenüber dem Frontkämpfer des 1. Weltkrieges?

Chasanow gelingt es, historische Tatsächlichkeit und dichterische Wahrheit, die auch aus der Erfindung kommt, zu vereinen, die Dämonie des Regimes, die es ja auch selbst propagierte, einerseits zu wahren, andererseits als willkürlichen Bezugsrahmen zu entlarven und nicht einmal die menschlich-kreatürliche Seite ganz außer Acht zu lassen - wozu herkömmliche, moralisierende Literatur über die NS-Diktaktur ja immer und vor allem in Deutschland neigt.

Im 14. Kapitel wird überzeugend der Bogen geschlagen zwischen dem nochmals mystifizierend Fürst der Finsternis genannten Diktator und der Privatperson Adolf H. "Beide Seiten verhielten sich so, als komme keine von ihnen in irgendeiner Weise mit staatlichen Dingen in Berührung. Beide Seiten gaben sich vielmehr den Anschein, als hätten sie keine Ahnung, wer sie in Wirklichkeit waren." S.253. Wir wohnen also einer Farce bei.

Chasanow wagt eine im Wortsinne intime Begegnung mit dem Dikatator, wozu ihm die Personalunion des Königs mit seiner ärztlichen Profession dient. Der Führer sucht ihn als urologische Kapazität auf, um ein genau genommen andrologisches Leiden zu beheben, die Impotenz. Dies ist an sich kein sonderlich überraschendes Motiv. Der von der NS-Ideologie nicht mehr betroffene Nachgeborene oder ihr damaliges Opfer mag sich wünschen, jener militärisch damals so potente Staat hätte doch wenigstens in der Person seines Führers einen merklichen Mangel aufgewiesen. Chasanow ist sich auch bewußt, wie nahe er hier am erotischen Terrain operiert. Beide Beteiligte "benahmen sich wie heimliche Liebende, die sich des Nachts in schmerzlicher Leidenschaft vereinigt haben, anderntags aber ruhig und distanziert über Geschäfte reden, ohne sich dabei etwas anmerken zu lassen." S. 253

Man mag an einige private Farbfilmaufnahmen denken, die den Diktator in geselliger Runde auf dem Obersalzberg zeigen. Heute finden wir eine Parallele in dem Film Mein Führer, den Dani Levy 2007 gemacht hat, in dem der Komiker Helge Schneider den Diktator spielt, sich von einem jüdischen Lehrer instruieren läßt und u.a. an dem besagten körperlichen Problem leidet.

Selbst die Decouvrierung des Mystagogen gelingt Chasanow süffisant und ohne wohlfeile Häme. Wie also kleidet sich der Fürst der Finsternis aus? "Der Direktor erschien in einem zartblauen Unterhemd und Seidensocken" und auf der fülligen Brust sieht der Arzt einen langen "Dolch mit gebogenem Griff nebst der Aufschrift: Tod den Juden. Sie bestätigte die Version von der proletarischen Herkunft des Direktors". Weiters werden ein Sarg, ein durchbohrtes Herz und die Devise Leben ist Leiden sichtbar. S. 259. Chasanow beglaubigt die Volksnähe des Diktators ausgerechnet durch Tätowierungen, die zu jener Zeit eine Angewohnheit der Unterschicht waren. Auch hier finden wir politische Programmatik und deutsche Philosophie, nämlich Schopenhauer, gewissermaßen in Personalunion vereint.

Natürlich schummelt Chasanow ein wenig, denn mit Röntgenbildern rückt man dem Fall nicht zu Leibe - zu Leibe schon deshalb nicht, weil man auch damals schon wußte, daß, abgesehen von einigen genau umgrenzten somatischen Ursachen, im wesentlichen eine psychische Ätiologie anzunehmen ist. Dafür wäre dann allerdings die Theorie des soeben aus dem Land gejagten und im Exil verstorbenen Dr. Freud zuständig gewesen. Chasanow wollte mit der Episode wohl auch an die unbeantwortete und unbeantwortbare Frage erinnern, wie ein von Amts wegen haßerfüllter und Zerstörung verbreitender Dikator als Mensch liebesfähig - wenn auch nicht gerade liebenswürdig - sein kann. Vielleicht kann man auch folgenden formalen Standpunkt einnehmen: wenn das Regime und sein Inhaber seinerzeit so viel Mühe verwendet haben, das tatsächliche Liebesverhältnis mit Eva Braun geheimzuhalten, um eine übermenschlich-überindividuelle Aura aufzubauen, dann darf der reflektierende Autor später auch seine Nase in dieses Geheimnis stecken und nachschauen, ob er etwas findet.

Chasanow ist ein Virtuose der Topik, d.h. er ordnet die vorgebrachten Sachverhalte höchst kunstreich nach ihrer Bedeutung und Wichtigkeit an, und zwar so, daß er ihre Wichtigkeit hinter sprachlichen Rückzugsgesten und vermeintlicher Nebensächlichkeit versteckt. Der Leser bemerkt das Mißverhältnis und stutzt erst recht. Es ist eine Form des uneigentlichen Sprechens, wie man sie sicherlich in einer Diktatur lernt oder jedenfalls gut brauchen kann. Wie macht er die Ungerechtigkeit und Widersprüchlichkeit des NS-Staates und seiner Ideologie deutlich?

Zunächst geht er frontal auf den Begriff der Gerechtigkeit zu. Sedrik verlangt von seinem philosophischen Sohn eine Erläuterung des Begriffs der höchsten Gerechtigkeit, weil dieser ihm allzu rasch in einen optimistischen Rationalismus integriert zu sein scheint. Kristian zitiert auch gehorsam und beinahe erwartbar Leibniz, mit einer taschenspielerischen Problemverdrängung: "Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit hängen nicht nur von der Natur der Menschen ab, sondern auch von der Natur Gottes....Die Natur Gottes [aber] fußt immer auf der Vernunft." S. 233. Dies heißt (für Leibniz) nichts anderes als daß die Vernunft Gottes in die Welt diffundiert und dort auch für Gerechtigkeit sorgt. Chasanow konterkariert diesen akademischen Wortwechsel mit einer vorab wie beiläufig hingeworfenen Bemerkung. Kristian nämlich entnimmt das Leibniz-Zitat einem Notizbuch, das ihm "u.a. bei der Leibesvisitation in der Desinfektionskammer abgenommen [wurde...] " Und daß der Häftling bei dieser Gelegenheit "die Steißbacken auseinanderziehen" ebd. mußte, macht die menschliche Entwürdigung im KZ vollständig. Es genügen wenige charakteristische Worte für den Ortswechsel, Stimmungswechsel, Bedeutungswechsel. In der Musik könnte man dgl. eine harmonische Rückung nennen, eine verblüffende Modulation mit nur einer Zwischenstufe.

Ähnlich unterkühlt spielt sich eine kindliche Tragödie ab, nämlich der unbedachte Vorstoß eines knapp neunjährigen Bengels, der einen Wachposten anspuckt - gerade auch am 9. November, einem deutschen Schicksalstag. An der Oberfläche geht es Chasanow um das pädagogische Anliegen, das sich der König zu eigen macht: die Jugend zu besseren Manieren zu erziehen. Und was ist mit dem konkreten (Vor-)Fall? "Die Bestattung des Buben erfolgte auf Staatskosten." S. 236 Lapidarer kann man die Hinrichtung eines Kindes nicht unausgesprochen lassen - und hervorheben.

Chasanow schafft außerdem das bewundernswerte Kunststück in einem einzigen Satz, die deutsche Geistesgeschichte der letzten 400 Jahre zu skizzieren und dabei noch einen Blick für die Suppenteller der königlichen Tafel übrig zu haben. Wie macht er das? Hören wir diesen schönen deutschen Bandwurmsatz, der Th. Mann alle Ehre gemacht hätte:

"Kristian, der verachtete Sohn, war Prof. für deutsche klassische Philosophie, ein Fach, das nach Sedriks Meinung nunmehr blamables Scheitern demonstrierte; denn man konnte nicht leugnen, daß sich von Johann Scheffler, dem "Schlesischen Engel", aus ein Faden spannte, an dessen anderem Ende, o weh, Alfred Rosenberg baumelte, von Hegel ganz zu schweigen, den Sedrik der leichtfertigen Nachsicht mit dem Allgemeinen und der Apotheose des menschenfressenden Etatismus zieh, kurz, kein anderer als Kristian hatte hier, in diesem düsteren Speisezimmer über der erkaltenden Graupensuppe, für die verhängnisvolle Entartung des deutschen Geistes, für die Wunschträume Schillers, die sich in den Unsinn der proletarischen Revolution verkehrt hatten, ex officio die Verantwortung zu tragen." S. 211

Hier wird die Brücke vom Barockpoeten und Prediger Angelus Silesius bis zu Alfred Rosenbergs berüchtigtem Buch Der Mythus des 20. Jhdts. geschlagen, das dem NS den Weg bereitet hat, und Schiller und Hegel werden als Stationen dazwischen gesehen. Ähnlich hat seinerzeit Heine in seiner Geschichte der Deutschen Philosophie über die Eigenart des deutschen Geistes sinniert, um sie den Franzosen näher zu bringen.

In diesem 8. Kapitel der Erzählung nimmt sich Chasanow das Herz seines Gegenstandes vor, das Wesen - oder wie er sagt: das Rätsel des Reiches. Er verwendet Begriffe wie Geheimnis, behexend, Fata Morgana, Mystifikation. "Niemand wußte etwas und keiner hatte das Recht, etwas zu wissen, alles wurde vor den Ohren und Augen eines jeden sorgfältig verborgen, denn jeder stand unter Verdacht" S. 223. Chasanow erkennt das Prinzip der "organisierten Verantwortungslosigkeit" als tragendes Gerüst des NS-Staates, aber wie wir alle wissen, ist es auch in vielen neueren Demokratien wirksam und spürbar, um nicht zu sagen: erfolgreich, und daß es auch für Rußland gilt, davon ist Chasanow sicherlich überzeugt.

Er spielt dem Kommentator auch - vielleicht ungewollt - eine andere Parallele in die Hände. Eingehend widmet er sich in der Königsstunde dem Mythos des Reiches als eines Wahngebildes. Neuere Geschichtsschreibung hantiert natürlich ungern mit einem solchen Erklärungsmodell und führt lieber sozialgeschichtliche, ökonomische oder biologistische Argumentationen aus. Der Dichter mag sich gleichwohl an die Große Erzählung, eben den Mythos, halten, die das Reich von sich selbst verkündet hat. Chasanow hat in dem Text, der in der neuen Dominante abgedruckt ist, in gleicher Weise vom Mythos Rußland gesprochen, ja geradezu mit ihm gerungen, weil ihm die Ambivalenz von Anziehung und Abstoßung noch immer ein Problem ist.

Noch vieles gäbe es bei Chasanow zu entdecken und zu würdigen - wenn dafür Zeit wäre. Eine Fähigkeit muß ich aber doch noch hervorheben, die sich beispielhaft in der Erzählung Ich bin die Auferstehung und das Leben findet - ein wunderschöner Titel notabene. Er erzählt dort vom und im erwachenden Bewußtsein eines vielleicht achtjährigen Knaben, eine literarisch unglaublich schwierige Aufgabe. Man könnte meinen, es gäbe hier nur entweder eine wie auch immer rekonstruierte Innensicht oder eine objektivierende Außensicht des (späteren) Erwachsenen auf sich selbst als Kind. Chasanow gelingt eine erstaunliche Verschränkung beider Perspektiven, die man in erster Annäherung vielleicht so beschreiben kann: in der sprachlich gewandten und elaborierten Syntax des Erwachsenen vollzieht sich das beinahe noch vorsprachliche Erleben des Kindes. Oder um eine literaturästhetische Formulierung zu zitieren: Abstraktion und Einfühlung.

Chasanow spannt sogar innerhalb des kindlichen Bewußtseins bereits eine Geschichte, eine Vergangenheit auf und unterstellt dem Jungen eine - man möchte sagen atmosphärische Erinnerung an seinen ersten Geburtstag. Höchst bemerkenswert wird aber der Vorgang der Individuation nachvollzogen, der mit dem in der biblischen Paradieserzählung herausgestellten Erkenntnisvorgang identisch ist und auch genau den selben körperlichen Akt meint: "Vater und Mutter waren ein Körper gewesen, sie waren aus einem leuchtenden Wesen entstanden und hatten sich trennen müssen, damit er entstand, sie hatten sich wie eine Kugel in zwei Hälften geteilt, und zwischen ihnen lag der Junge." S. 35. Der Kenner weiß natürlich, daß hier auf Platons Eros-Theorie Bezug genommen wird, die Kugelmenschen, deren Drang zueinander nach gewaltsamer Spaltung die Liebe ausmachen soll. Das Kind nimmt sich hier als Gabe oder Ergebnis an, erkennt seine Abkunft und versteht sich als Wesen mit eigener Zukunft.

Verehrte Zuhörer! Sie sehen, daß wir in Boris Chasanow einen glänzenden Stilisten, einen politisch wachen und integren Zeitgenossen und einen philosophisch erfahrenen Denker vor uns haben, der an den Leser zwar nicht geringe Anforderungen an Allgemeinbildung und historischem Wissen stellt, ihn auf diesem Niveau aber reich belohnt. Wir freuen uns, ihm unsere Ehrerbietung erweisen zu dürfen und ihm für sein Werk Dank zu sagen.

Gerhard Bachleitner 3.4.11