RAD UND UNRAT

Von den Schwierigkeiten einer Radfahrerkultur

Der Mensch ist ein sich bewegendes Lebewesen. Von Natur aus geht er auf zwei Beinen, von Kultur aus gebraucht er allerlei Fortbewegungswerkzeuge, die in der Regel auch jeweils einen sozialen Rang bedeuten. Der Oberschicht gehört an, zu wem die Leute kommen; und wenn er sich einmal selbst bewegen will, läßt er sich von Anderen transportieren, in einer Sänfte, im Taxi, von einem Chauffeur. Die Mittelschicht sorgt selbst für ihre Beförderung, auf Pferden, in Kutschen und Wagen, auf Motorrädern und Flugzeugen. Fußgänger ist man nicht aus Überzeugung, sondern nur jeweils für den Rest von Strecken, die mit einem Fahrzeug bewältigt werden.

Die Motorisierung hat den homo automobilis hervorgebracht, eine ungeheuer erfolgreiche, an ihrem Erfolg beinahe schon wieder zu Grunde gehende Species, der wir einschneidende Veränderungen im Haushalt einer Volkswirtschaft und der Natur verdanken. Der Kritik an diesem Phänomen wollen wir uns ausdrücklich enthalten, da sie niemandem von Nutzen wäre, weder denen, die's eh' schon wissen, noch denen, die keine noch so lange Liste von Nachteilen überzeugen kann. Vielmehr sind wir geneigt, das Autofahren gewissermaßen als Triebschicksal des Menschen im 20. Jahrhundert anzusehen. Der Wunsch, über Energien zu gebieten, die über eigenes Vermögen hinausgehen, ist indes alt. Die PS-Protzerei heutigen Datums ist die bruchlose Verlängerung des Imponiergehabes zu Zeiten der Pferdewagen. Wer im 6- oder 8-Spänner fahren konnte, war offensichtlich mehr als der im Zwei- oder Einspänner, und der noch sah auf den herab, der sich nur seiner natürlichen Ausrüstung, also der Beine, bedienen konnte.

Die einfache Zweiteilung in instrumentelle und 'organische' Fortbewegung wird aber durch die Erfindung des Fahrrades über den Haufen geworfen - womit wir beim Stein des Anstoßes angelangt wären. Das Fahrrad ist beides - Fahrzeug und Selbstbewegung, der Radfahrer ein Zwitterwesen - Herr einer Maschine und potentieller Fußgänger. Bereits daraus erklärt sich sein unbedingt subversiver Charakter. Er bringt das Kästchen-Denken der Verkehrsplaner in Unordnung, sich selbst bei Ausübung seiner Fortbewegung stets in Lebensgefahr und andere Verkehrsteilnehmer oft in Rage.

Seit einigen Jahren wird zunehmend über die Verkehrsprobleme von Radfahrern diskutiert, in Stadtverwaltungen und bei der Polizei, Aufklärungskampagnen zwecks besserer Einhaltung der Verkehrsregeln wurden angezettelt, Schuldzuweisungen gingen vom Lager der Autofahrer an das der Radler und umgekehrt. Im Verkehr herrscht eine gespannte, teilweise haßerfüllte Atmosphäre, mindestens aber grundsätzliches Mißtrauen.

Das Radfahren war zwar nie Mode und konnte daher auch nie unmodern werden; es hat aber mit Beginn der Ökologiedebatte einen neuen Stellenwert erhalten. Man fing an, Energieverbräuche zu berechnen, und stellte fest, daß das Fahrrad eine unerreicht günstige Energiebilanz aufweist. Der Fahrer setzt 500 Watt ein, verbraucht davon 400 Watt im eigenen Körper, und 100 Watt werden in mechanische Energie umgewandelt. Dagegen stehen die 50.000 Watt eines üblichen Mittelklassewagens. Und der Geschwindigkeitsvergleich fällt im Verkehr der Großstädte keineswegs zuungunsten des Fahrrades aus. Ein geübter Radler - wir denken hier z.B. an ein 40 km/h- Tempo - kann in einem nicht unbeträchtlichen Radius durchaus mit dem Autoverkehr Schritt halten. So weit, so gut, aber damit beginnen die Schwierigkeiten erst, und wir müssen ein wenig tiefer in die Psychologie eindringen.

Der Motor des Kraftwagens ist nicht einfach eine Verbrennungsmaschine, sondern stets auch Erweiterung des eigenen Körpers, nicht zuletzt auch der Potenz. Psychologen reden von Phallolokomotorik, dem Vermögen, die sexuellen Wünsche so weit als möglich in der Umwelt 'voranzubringen'. Wie man aus vielen Filmen weiß, ist ein roter Ferrari die Metapher für sexuelle Umtriebigkeit.

Diese vitale Bedeutung des Autos scheint uns auch durch einen ganz anderen Aspekt bestätigt zu werden. Versicherungspflichtig sind und besteuert werden nur motorisierte Fahrzeuge. Es zählt nicht die absolute Geschwindigkeit - in der der Radfahrer dem Mofa überlegen ist und bisweilen Mopeds erreicht. Mit Abgabe belegt wird allein der Tatbestand der Motorisierung, und zwar offenbar als einer Gelegenheit des Lustgewinns. (Die natürlich ebenfalls wichtigen 'rationalen' Argumente für diese Abgaben wollen wir hier einmal beiseite lassen).

Schon hier drückt sich also die Geringschätzung des Radfahrers in der Verkehrspolitik aus. Es ist die Geringschätzung dessen, der sehr wenig Energie verbraucht und insofern volkswirtschaftlich marginal bleibt. Im Verkehr selbst hat die Geringschätzung auch noch eine weitere, sozusagen konstruktionsbedingte Ursache. Der Radfahrer hat ein außerordentlich geringes optisches Gewicht - im Verhältnis zu seiner Geschwindigkeit. Ein Auto mit gleicher Geschwindigkeit wird, etwa von abbiegendem Gegenverkehr, weit eher respektiert als der Radfahrer. Dazu noch trägt dieser das Handicap unzulänglicher technischer Sicherheit. Ein Automobil mit ähnlich langen Bremswegen, zumal bei Nässe, würde nie und nimmer auf die Straße gelassen. Und Bremsen sind das einzige, was dem Radfahrer, der ja keine Knautschzone besitzt, im Notfall helfen könnte.

Nun wird man mir vielleicht entgegenhalten, daß von Geringschätzung des Radfahrverkehrs doch keine Rede sein könne, da doch allenthalben Radwege angelegt, und etwa in München allein für den Umbau der Ludwigstraße Millionen ausgegeben werden. In der Tat sind diese Anlagen wohlfeile politische Munition, aber mit den Radwegen beginnen leider erst die Schwierigkeiten. Der Verfasser hat in einer umfassenden Studie im Jahre 1985 aus eigener, langjähriger Erfahrung die Struktur des Radfahrverkehrs und die Intentionen der Verkehrsplanung untersucht und ist dabei zu sehr negativen Ergebnissen gekommen. Er hat die Studie der Münchener Stadtverwaltung zukommen lassen, aber natürlich wäre es vermessen gewesen, einen Umschwung zu erwarten, und im übrigen werden manche Fehler der Vergangenheit heute tatsächlich nicht mehr gemacht.

Nein, wir wollen hier nicht nochmal eine Materialschlacht der Argumente schlagen, sondern eher nach der kulturellen Bedeutung des Verkehrs fragen. Verkehr ist ja ein Miteinander heterogener Gruppen mit verschiedenen Zielen (und notabene verschiedenen Weltbildern), und sein Raum umfaßt einerseits staatlich regulierte Areale (Verkehrsregeln) und andererseits individuell verantwortete Handlungen. Man kann also angesichts des Verkehrs auch fragen: wie gehen wir als Mehrheit (von Autofahrern) mit einer Minderheit (von Radfahrern) um? Oder: wie geht das staatlich autorisierte Regelwerk mit der Entscheidungsfreiheit und der Verantwortung des Einzelnen um?

Jeder, der einmal im Ausland war, sagen wir: in Italien, Frankreich oder im Balkan, weiß, wie anders dort Verkehr verstanden wird. Verkehr ist immer auch Selbstdarstellung einer Gesellschaft. Und wir Deutschen sind da in einer etwas zwielichtigen Rolle. Einerseits kennen wir uns als berüchtigte Autobahnraser, denen eine Geschwindigkeitsbegrenzung aufzuerlegen bislang nicht gelungen ist, weil das als Beschneidung individueller Freiheit gilt. Andererseits ist der städtische Verkehr in einem Ausmaß reguliert und stranguliert, daß man nicht umhin kann, das Wort von den obrigkeitshörigen Deutschen wieder anzuwenden. Wo in anderen Ländern gegenseitiges Verständnis und wortlose Absprache bestens, wenn auch für den Außenstehenden chaotisch, funktionieren, braucht man hierzulande eine Unzahl von Ampeln, Schildern und baulichen Regulativen; vorgebliche Sicherheitsbedürfnisse haben hypertrophe und manchmal groteske Formen angenommen. Man jagt den Chimären von der Entflechtung des Verkehrs und von der Verkehrsberuhigung nach. In Wirklichkeit aber kommt es auf die Verflechtung des Verkehrs und auf die Verkehrsverflüssigung an. In 3 Thesen zusammengefaßt, wäre also festzustellen:

1. Sinn und Zweck des Verkehrs ist nicht die Verkehrsberuhigung, sondern der Verkehr.

2. Sinn und Zweck des Verkehrs ist nicht die Einhaltung der ihn betreffenden Regeln, sondern der Verkehr.

3. Sinn und Zweck des Verkehrs ist der maximale Durchsatz der Teilnehmer durch den gegebenen Verkehrsraum bei minimalen Störungen (Unfällen). Was den Radfahrer betrifft, gehört er zu den Hauptleidtragenden der Verkehrsplanung. Man glaubt, ihn auf sog. Radwege abschieben zu können, Trassen, die entweder durch einen bloßen Strich oder durch anderen Belag von Gehsteigen abgeteilt und nichts weniger als eigenständige Trassen sind. An Einmündungen, Kreuzungen, Ausfahrten, beim Linksabbiegen, durch allzu enge Kurvenradien und reduzierte Beleuchtung in Folge abschattender Bäume, durch kreuzende Fußgänger, Hunde und geparkte Autos - bei zahllosen Gelegenheiten gibt es Konflikte, Konflikte wohlgemerkt, die alle nur durch Fahrradwege verursacht sind, durch bewußte oder zumindest fahrlässige Verkennung der wirklichen Verkehrsabläufe. Zum Vergleich: in ganz Paris habe ich auf ausgedehnten Wanderungen nur einen einzigen Radweg entdeckt, auf den Champs Elysee, und selbst dieser war fakultativ, ein mit Strich abgeteilter Streifen der Straße, der nach Möglichkeit auch von Autos befahren werden konnte. (Und keineswegs dringen von dort alarmierende Zahlen der Unfallhäufigkeit) In der Tat verschwenden wir mit unseren Radwegen unnötig kostbaren Verkehrsraum, denn sie werden vergleichsweise wenig frequentiert, und da sie in aller Regel auch gefährlicher als die Straße sind, kann man von ihnen ohnehin nur abraten.

Die Radfahrer finden sich um teures Geld ghettoisiert, auf miserable Fahrbahnbeläge gestellt und zu den Fußgängern gedrängt, denen sie an Tempo zehnmal überlegen sind, während sie Autos nur um weniges nachstehen. So geraten die Radfahrer in einen Zweifrontenkrieg. Fußgänger lassen sich nicht zu Robotern disziplinieren, aber genau das müßten sie sein, wenn sie mit Radfahrern auf ein und demselben Randstein verkehren sollen. Ein Radfahrer, der neben einem belebten Gehsteig seine volle Geschwindigkeit ausfährt, hat nicht nur reichlich Gelegenheit, Fußgänger in Grund und Boden zu fahren (ohne Schuld zu sein, denn sein langer Bremsweg rechtfertigt ihn); vielmehr wird er von den Fußgängern schon allein durch seine Geschwindigkeit als Rüpel empfunden.

Und so lassen sich auch für die Regelverstöße, die den schlechten Ruf der Radfahrer ausmachen, jeweils gute, nämlich in der Funktionalität des Verkehrs beruhende Gründe aufweisen. Als Beispiel wählen wir die Mißachtung des Einbahnstraßenverbots.

Einbahnstraßen sind in aller Regel zur 'Verkehrsberuhigung' des Autoverkehrs angelegt. Das Fahrrad kann jedoch nicht Gegenstand der Verkehrsberuhigung sein, da es bereits das ruhigste Verkehrsmittel ist. Und man kann vom Radfahrer nicht die Umwege verlangen, die man von einem Autofahrer verlangt, der ja die Bewegungsenergie nicht mit dem eigenen Leibe aufzubringen hat. Und schließlich läßt sich der Radfahrer nicht einfach Straßen 'wegnehmen', die im Weichbild der Stadt alle ihre 'strategische' Bedeutung haben. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich eben genau die Straßen entwickelt, die zur Erschließung des Stadtgebietes notwendig waren. Eine erhebliche Einbuße dieser Struktur würde eine Verschlechterung gegenüber früheren Zeiten bedeuten.

Mit Rowdies kann man keine Kultur machen - will sagen: das weitgehende Unvermögen, das Verhalten der Radfahrer zu verstehen, verhindert ein gedeihliches Miteinander im Verkehr. Der Verkehr ist so lange unkultiviert, d.h. inhuman, lebensgefährlich und unproduktiv, als die verschiedenen Gruppen gegeneinander ausgespielt und auch die legitimen Verkehrsbedürfnisse jeder Gruppe gegen diese selbst verwendet werden. Verkehr darf keine Angelegenheit der Politiker bleiben, sondern muß als wesentlicher Bestandteil einer (urbanen) Kultur verstanden werden.

 

 

 

 

 

 

 

Gerhard Bachleitner