Klasse 13 a

Hausaufgabe aus dem Deutschen

G. Bachleitner

ERLÄUTERN SIE EINEM BRIEFFREUND GESCHEHEN UND PROBLEMSTELLUNG EINES IHNEN BEKANNTEN MODERNEN ROMANS!

Gliederung:

A: *

1. Die Problematik einer Interpretation *

2. Literarhistorische Anmerkungen *

3. Das faktische Geschehen (Inhaltsangabe) *

B: *

I. Problematik des Prozesses *

1. Problematik der Verhaftung *

a Akzeptierung der Verhaftung durch K. *

b Folgen und Wesen der Verhaftung *

2. Problematik des Gerichts *

a Hierarchie *

b Die Verteidiger *

c Die Vermittler *

d Die Zeitstruktur *

II. Urproblem Rechtfertigung Zweierlei Arten von Rechtfertigung und ihre Wirkungen *

III. Probleme der Gestaltung *

1.Erzählperspektive *

2.Fragmentarische Romankonzeption *

C: Mögliche weitere Fragen *

[Erste Seite verschollen]

 ...

Er kann - theoretisch - seiner Arbeit nachgehen. Auf der ersten Verhandlung in einer der Dachkammern des Gerichts hält K., der von seiner Unschuld überzeugt ist, eine, wie er meint, schlagende Verteidigungs- und zugleich Anklagerede, stößt aber damit völlig ins Leere. Allmählich fühlt er sich veranlaßt, um Hilfe zu suchen, zuerst bei Frauen, dann auf Vermittlung sei nes Onkels bei einem Advokaten, schließlich beim Gerichtsmaler Titorelli. Da K. der Prozeß zu wenig vorwärts zu gehen scheint, beschließt er, dem Advokaten die Vertretung zu entziehen. Aus ursprünglich geschäftlichen Gründen gelangt K. in den Dom, wo ihm ein Geistlicher eine Parabel erzählt. Ein Jahr nach der Verhaftung holen K. die Exekutoren ab und töten ihn.

Die Problematik des Romans wird bereits zu Beginn sichtbar. In einem äußerlich lapidaren Satz ist die Verhaftung K.s festgestellt. Charakteristischerweise erfolgt dieser Einbruch einer fremden Realität in K.s vertraute Umwelt am Morgen. Eine später von Kafka gestrichene Stelle bemerkt: oder Augenblick des Erwachens (sei) der riskanteste Augenblick im Tage. Ihn müsse man heil überwunden haben, dann könne man den Tag über getrost sein. Man müsse Schlagfertigkeit beweisen, um alles an der gleichen Stelle zu Massen, an der man es am Abend losgelassen hat" (I, 465). Gerade diese Schlagfertigkeit aber fehlt K.; er läßt sich überrumpeln. Ein erstes Anzeichen dafür, daß sich der gewohnte Gang seines Lebens geändert hat, ist die Tatsache, daß die Köchin seiner Zimmervermieterin nicht erscheint, um das Frühstück zu bringen. Ferner bemerkt R. im Fenster des gegenüberliegenden Hauses, wie ihn eine alte Frau mit "ganz ungewöhnlicher Neugierde" (I, 259) beobachtet. Auf K.s Läuten tritt ein ihm unbekannter Mann ein, den K. nach seiner Identität befragt. Dieser Mann ignoriert aber die Frage, "als müsse man seine Erscheinung hinnehmen" (I, 259). K. trägt ihm auf, man solle ihm sein Frühstück bringen, und läßt damit bereits die Existenz den Mannes auf sich beruhen und erkennt sie an. K. hat sich hier schon auf den Prozeß eingelassen und wird sich in der Folgezeit nicht mehr daraus lösen können. Im Grunde genommen ist es also niemand anders als K. selbst, der den Prozeß beginnt. Die Gerichtsorgane sind bloß da, K. allein lautet sein Verfahren quasi mit dem Klingeln nach Frühstück ein. Er wird in seiner persönlichen Integrität jedoch nicht angetastet. "...alle Gegner besiegen ihn sofort, aber nicht dadurch, daß sie ihn widerlegen (er ist unwiderlegbar), sondern dadurch, daß sie sich beweisen." (II, 294). Die Macht dieser fremden Existenz das Gerichts bekommt E. zu spüren, als sein Wunsch nach Frühstück ins Nebenzimmer weitergeleitet wird, dort aber nur mit Gelächter aufgenommen und als unmöglich bezeichnet wird. Offenbar erscheint R.s Verhalten in dieser fremden Realität unpassend und lächerlich.

Die faktische Anerkennung des Gerichts vermag K. nun nicht mehr rückgängig zu machen. Sein Satz: "Ich will weder hierbleiben noch von Ihnen angesprochen werden, solange Sie sich mir nicht vorstellen." (I, 260) bleibt ein verbaler Protest und als solcher ohne Wirkung. Als K. weggehen will, wird ihm dies untersagt, da er verhaftet sei. "Und warum denn?" fragt er. Doch dieses entscheidende Warum wird während den ganzen Prozesses unbeantwortet gelassen und steht am Ende des Romans ungelöst im Raum. Der Wächter erwidert lediglich, er sei nicht bestellt, ihm das zu sagen. Die Umstände der Verhaftung sind gleichwohl äußerst merkwürdig. Es erfolgt keine Arretierung; man wendet keine Gewalt an, und droht auch nicht damit. Man spricht nur von "Verhaftung". In diesem Wort wird freilich bei näherem Hinsehen ein Doppelsinn erkennbar. K. ist nicht vom sondern dem Gericht verhaftet, und zwar "allein auf Grund den Sachverhalts, daß es sich ihm gezeigt hat." (IV, 247). Dieser "Verhaftung", die äußerlich seine Freiheit nicht beschränkt, entkommt K. nicht mehr. Zunächst sieht es nur so aus, als sei er verhaftet, wie er selbst sagt, aber einer der Wächter weist deutlich darauf hin: "Sie werden noch sehen, wie wahr das alles ist." (I, 260). K. erwägt vorübergehend, ob es sich nicht um einen Spaß, den Kollegen ven der Bank ausgeheckt haben, handeln könne. Er ist sich nicht sicher, beschließt aber, die Komödie mitzuspielen. Andererseits sucht er jedoch seine Legitimationspapiere, um sich gegenüber dem Wärter auszuweisen, nimmt also die Sache ernster, als er sich selber eingesteht. Er beginnt bereits, Rechtfertigungen zu suchen, obwohl ihn niemand angeklagt hat und niemand etwas von ihm will. K. selbst ist es, der den Prozeß in Gang setzt und vorantreibt, "das Gericht will nichts von ihm, wie der Geistliche im Dom erläutert; es wird nur "von der Schuld angezogen" (I, 263). Daß Leben K.s hat durch die Verhaftung eine irreversible Veränderung erfahren: von nun an ist es sein Bestreben, dem Gericht seine Unschuld und das Fehlen der Berechtigung eines Verfahrens gegen ihn nachzuweisen. Die Art seiner Argumentation vor dem Gericht ist die zwischen einer Privatperson und einer Behörde übliche: eine juristische, nach Paragraphen und Kompetenzen geregelte Auseinandersendung. Die Tatsache, daß ihm und auch dem Leser das Gericht so fremd und unangreifbar erscheint, ist darin begründet, daß er das eigentliche Wesen der Behörde nicht erkennt, denn er ist bestrebt, eine scharfe Trennung zwischen dem Prozeß und seinem "übrigen" Leben zu vollziehen. Ihm entgeht die Einheit von Gerichts- und Arbeitswelt, wenngleich er dies schon daran ablesen könnte, daß die drei Beamten von der Bank, vorübergehend im Dienste des Gerichts, ihn zu seinem Arbeitsplatz zu begleiten angewiesen sind. Anderen Leuten, wie etwa dem Onkel bedeutet offenbar die Existenz des Gerichts nichts ungewöhnliches, und im Volk kursieren Sprichwörter über dessen Methoden. Wörtlich spricht es der Maler Titorelli aus: "Es gehört ja alles zum Gericht." (I, 380).

Die Struktur und, wenn möglich, das Wesen des Gerichts müssen näher untersucht werden; die meisten Belege dazu sind im 7. Kapitel, in den Reden des Advokaten, zu finden.

Die Gerichtswelt ist eine streng hierarchisch gegliederte Welt, bestehend aus niederen, höheren und höchsten Organen, die jedoch mit Ausnahme der niedersten und unbedeutendsten Amtsträger alle nicht konkret fassbar sind. Die "Rangordnung und Steigerung des Gerichts ist unendlich" (I, 354). Eine unterste Stufe zu erreichen ist offenbar nicht möglich, da jeder, wie das Beispiel der drei Bankbeamten zeigt, potentiell ein Diener des Gerichts ist. Nach oben eine Grenze zu ziehen stellt sich gleichfalls als unmöglich heraus; von einem einzigen, obersten Richter ist nie die Rede. Das Gericht verliert sich einfach im Sphärischen. Jedoch unterliegt es in seinen Weisungen und Aussagen dem Gesetz. Und dieses Gesetz wiederum schreibt die Öffentlichkeit des Verfahrens nicht vor. Dem Angeklagten und seiner Verteidigung bleibt aus diesem Grunde die Anklageschrift unzugänglich, so daß jeglicher Anhaltspunkt für die Widerlegung der Anklage und den Erweis von Schuld oder Unschuld fehlt. K. muß gegen ein Phantom, gegen eine Hydra mit tausend Köpfen, tausend Armen, tausend Augen kämpfen. Gegenüber diesem Apparat schrumpfen die Angeklagten zum bloßen Nichts. Sie können zwar Eingaben an das Gericht einreichen, aber es kommt häufig vor, daß sie gar nicht gelesen werden oder 'verlorengehen". Die Verteidigung vermag dagegen nichts zu unternehmen; ihre eigene Existenz besteht nur am Rande der Legalität. "Strenggenommen gibt es gar keine vom Gericht anerkannten Advokaten" (I, 351). Ihre Funktion ist daher äußerlich verschwommen, zumal sie nicht einmal an den Verhören des Angeklagten teilnehmen dürfen. Die einzige Aufgebe, die zu erfüllen sie imstande sind, kann mit der Bezeichnung Vermittlung umschrieben werden.

Diese Vermittlung ist ein Grundprinzip der ganzen Prozeßwelt. Sogar der Advokat Huld selbst wurde K. nur durch Vermittlung seines Onkels erreichbar, auf den Gerichtsmaler Titorelli wird K. von einem Fabrikanten hingewiesen und für das Zusammentreffen K.s mit dem Geistlichen im Dom ist bereits eine Schar von Vermittlern tätig: der Direktor, der italienische Bankkunde, Leni und ein Kirchendiener. Alle diese Vermittler wollen K. zwar helfen, jedoch in einer Form, die ihm gründlich mißfällt. Ihre Absicht läuft darauf hinaus, den Prozeß zu verzögern und auf einer möglichst niederen Stufe zu halten, denn ein wirklicher Freispruch ist, wie Titorelli sagt, zwar möglich, aber natürlich nur dann, wenn der Angeklagte unschuldig ist. In diesem Falle bräuchte es jedoch keine Helfer und Vermittler. Obwohl sich K. für unschuldig hält, tut er also doch immer wieder das Falsche, nämlich Hilfe von anderen zu suchen, anstatt mehr an sich zu denken, wie ihm schon zu Beginn des Prozesses der Aufseher riet. Der Geistliche mußte K. dann vorwerfen: "Du suchst zuviel fremde Hilfe" (I, 431).

K. setzt für seine Person Schuldlosigkeit voraus und will gleichzeitig diese vor dem Gericht beweisen. Er gebärdet sich daher auf eine, in der Prozeßwelt ganz unangemessene Weise. Das vor wollen ihn die Vermittler bewahren unke ihn zu einem gehorsamen, untertänigen, gedemütigten Angeklagten machen, wie es jene sind, denen er auf seinem Gang an den Kanzleien vorbei begegnet. Auch sein Advokat führt ihm in dem Gespräch mit dem Kaufmann quasi ein Schauspiel vor, damit K. daraus eine Lehre nehmen könne. K. fühlt sich nur abgestoßen von dem hündischen Gebaren des Kaufmanns, und doch: später bleibt es ihm nicht erspart, unter weitaus entwürdigenderen Umständen "wie ein Hund" (I, 444) zu sterben.

In der Prozeßwelt herrscht eine eigenartige Zeitstruktur, die besonders im Kapitel "Der Prügler" zum Ausdruck kommt. Die beiden Wächter werden bestraft, weil K. mit ihrem Verhalten bei seiner Verhaftung nicht zufrieden gewesen war und sich allgemein über die üblen Zustände beim Gericht geäußert hatte. Diese Anschuldigungen werden nun wörtlich genommen und allein auf die beiden Wächter bezogen, sodaß K. die Prügelstrafe von ihnen abzuwenden sucht, um ihnen nicht Unrecht zu tun. Als K. jedoch am nächsten Tag wieder die Rumpelkammer betritt, ist alles unverändert, das Prügeln geht, gleichsam als Fortsetzung, weiter. Die Folterung unterliegt einer unendlichen Wiederholung, wie alles in dieser Welt des Gerichts und wie auch K.s Handeln selbst. Er ist immer auf der Suche nach Hilfe, er fahndet nach immer neuen Möglichkeiten, sich zu rechtfertigen und ins Zentrum des Gerichts zu gelangen, um seine vermeintliche Unschuld zu beweisen. Es braucht lange Zeit, bis er die Sinnlosigkeit dieses ständig 7 sich wiederholenden Kreislaufs erkennt. In den Richterbildnissen Titorellis, auf denen die Personen dasitzen, als wollten sie im nächsten Augenblick aufspringen, konkretisiert sich die "höchste Bewegung vortäuschende Unbewegtheit" (IV, 281). Und seine Heidebilder sind charakteristischerweise gleich in mehrfacher, identischer Ausfertigung, stereotyp wiederholt, vorhanden. Entsprechend ist es müßig, in der Gerichtswelt nach "Anfang" oder "Ursprung" zu suchen; diese Welt ist in sich statisch und duldet keine Veränderung - schon gar nicht "Verbesserungsvorschläge" von Angeklagten. Selbst der Beginn eines Prozesses ist unscharf und keineswegs eindeutig fixierbar, und über das Ende sagt der Geistliche: "Das Urteil kommt nicht mit einem Mal, das Verfahren geht allmählich ins Urteil über. " (I, 431 ) . K. versucht aber, seine Vergangenheit ans Licht zu bringen und eine Eingabe zu verfassen, die sein ganzes bisheriges Leben umfassen und die Gründe für jede seiner Handlungen darlegen soll. Abgesehen davon, daß die Fertigstellung K.s Kräfte und sein Leben übersteigt, und er die Vergangenheit nicht zu bewältigen vermag, ist gerade die Tatsache, daß er eben nur vergangenes rekonstruieren, sich also nachträgLich rechtfertigen will, entscheidend dafür, daß sich das Gericht für sie überhaupt nicht interessieren würde. K. ginge damit mit zeitlichen Kategorien an etwas unzeitliches oder anderszeitliches heran und dies muß zwangsläufig fehlschlagen. Das Gericht ist an keine Zeit gebunden, es ist an überhaupt nichts gebunden außer an das Gestz . Es war schon immer da und wird immer da sein; es beobachtet und registriert alles, wie es später im "Schloß" in schwindelerregenden Aktenbergen gespeichert sein wird. Die Methoden, mit denen K. dem Gericht beizukommen sucht, sind völlig wirkungslos. Erst durch das Türhütergleichnis gelangt K. zur Erkenntnis des Teufelskreises, in dem er sich bewegt hat und in dessen Verlauf er das eigentliche Ziel seines Daseins verfehlt hat. Erst in dieser Geschichte, die den Roman gleichsam in nuce enthält, wird K. die Ausweglosigkeit seiner Rechtfertigung der Vergangenheit bewußt. Rechtfertigung des Daseins kann nur in der fundamentalen "Einsicht in seine eigene Verfassung" (IV, 286) bestehen. Diese Erkenntnis muß freilich Konsequenzen haben: tödliche, denn Erkenntnisvermögen und Tod gehören zusammen, dergestalt, daß das eines ohne das andere nicht möglich ist. (Man vergleiche damit Kafkas Reflexion über den Sündenfall). Der Mensch darf aber hier den Tod nicht als Strafe auffassen, sondern als ein dem Leben notwendig zugehörendes Element und seine einzige Chance, sich und es zu rechtfertigen. K. verfügt zwar nicht über die Kraft, "seinen" Tod zu sterben, aber die innere Wandlung ist trotzdem vollzogen. Er hat aufgehört, "die Tatsache der Erkenntnis zu fälschen, die Erkenntnis erst zum Ziel zu machen" (III, 102f). Indem K. am Ende seines Lebens bewußt wird, daß nur er den Prozeß geführt hat und nur er ihn auch beenden kann, indem er seine Vorstellung, ein heimtückisches, unberechenbares und grausames Gericht habe ihn verfolgt, nach seiner Verhaftung und Verurteilung getrachtet, fallenläßt, fällt auch der ganze Prozeß in sich zusammen und erweist sich als Fiktion, die nur die Aufgabe hatte, K. zur Wahrheit, zu sich selbst zu führen.

Das Hauptthema des Romans ist also die Rechtfertigung der menschlichen Existenz. K.s Bestreben richtet sich während des gesamten Prozesses darauf, seine Unschuld juristisch-argumentativ zu beweisen und sich so nachträglich zu rechtfertigen. Er kämpft, wie es jeder "normale" Mensch auch tun würde, gegen das Fehlen überhaupt eines offiziellen, haftbar zu machenden Organs, gegen die Mysteriosität des ganzen Apparats. K., der sich hierin im Wesen des Gerichts täuscht, bemüht sich immer um die falsche Art von Rechtfertigung, die man mit Nietzsche auch als Lehenslüge bezeichnen könnte: das Leben, gesehen durch die Brille der eigenen - moralischen - Eitelkeit. Dies täuscht ihn über die Art und das Ausmaß seiner Bedrohung hinweg und führt dazu, daß er den Prozeß bagatellisiert. Vor den Angeklagten, die auf den Gängen warten, brüstet er sich, daß er noch überhaupt nichts in seinem Prozeß unternommen habe. Andererseits lesen ihm diese Angeklagten die Verurteilung, mit der K. selbst in keiner Weise rechnet, bereits vom Gesicht ab. Die wahre Rechtfertigung ist die des Daseins im Ganzen, welche unumgänglich ist, aber gleichzeitig niemals vollständig erreicht werden kann. Das Dasein besitzt einen Rechtfertigungsgrund, den man sich wörtlich als "Boden, auf dem das Dasein steht, ohne ihn aber als Solchen erfassen zu können" (IV, 258) vorstellen kann. Im Rahmen diese Romans läßt sich fernerhin sagen, "daß der Rechtfertigungsgrund identisch ist mit dem unsichtbaren Gericht." (IV, 259). Die Analogie weist zugleich darauf hin, daß in der Gerichtswelt die oberste Stelle der Hierarchie oder, was damit gleichbedeutend ist, der Freispruch, sozusagen per definitionem unerreichbar ist, obwohl nur dies K. retten könnte. Symbolisch wird dieser Sachverhalt in der Parabel "Vor dem Gesetz" ausgedrückt: nur für einen ganz bestimmten Mann ist der Eingang geöffnet, jedoch wird ihm zugleich der Eintritt verboten. Auch dieser "Mann vom Lande" tut das Falsche: er folgt dem Prinzip der Vermittlung und wendet sich an die Flöhe im Pelzkragen des Türhüters, ohne dadurch freilich einen Schritt weiterzukommen. Weil er das Wesen des Gesetzes verkennt, wird sein Anspruch, es zu betreten, zunichte, ebenso wie K.s Schuld darin besteht ,daß er das Wesen des Gerichts verkennt und es daher versäumt, zur Erkenntnis seiner selbst zu gelangen. Das Bestreben nach Rechtfertigung läßt K. sich überall beobachtet fühlen. Bereits im 1. Kapitel, bei seiner Verhaftung, wird viermal erwähnt, daß vom gegenüberliegenden Haus Leute zuschauen. Symmetrisch dazu beobachten am Ende des Romans die beiden Exekutoren seinen Tod, "die Entscheidung". Dieses Beobachtetsein ist jedoch nur eine Spiegelung der Selbstbeobachtung, wie überhaupt die ganze Welt um K. letztlich nur das Dasein und Sosein K.s spiegelt, der im Roman ja als Mensch, als Seele sozusagen, indifferent und hohl bleibt und erst in seinen Reaktionen Identität gewinnt.

Damit ist zugleich auch das Problem angesprochen, wie eine solche Figur vom Autor gestaltbar ist, wie ein unsichtbares, aber allmächtiges Gericht gestaltbar ist, und wie schließlich der ganze Roman strukturiert ist. Durch konkrete, quasi nachprüfbare Angaben ließe sich das Gericht sicher nicht darstellen. Kafka muß es daher in einem Raum von Hypothesen, die nicht einmal am Schluß eine definitive Antwort erhalten, ansiedeln. Unter normalen umständen wurde dies einen Roman spannungslos machen. Kafka umgeht die Gefahr dadurch, daß er die Erzählperspektive auf den Gesichtskreis der Hauptfigur beschränkt und den Leser in diese Benschränkung zwingt, ohne die Möglichkeit zur Identifikation zu nehmen. Freilich ist K. als "Charakter" kaum fixiert, er wird nur in seinen Handlungen, die von seinem verengten Blickfeld bestimmt werden, in welchem K. die Gegenstände nur punktuell-gegenwärtig zu erkennen vermag, zu einer Art von Person. Sein Innenleben erscheint als Hohlraum. Aus diesem Grunde trägt er ja auch keinen Namen, sondern ist lediglich mit einem einzigen Buchstaben symbolisiert, oder anders gesagt, auf diesen Buchstaben reduziert. Die Wahl des "K" deutet autobiographische Bezüge an. Freilich ist der Erzähler keineswegs mit der Hauptfigur identisch. Kafka hält genau die Mitte zwischen objektiver Er-Form und potentieller Ich-Form, was man als "erlebte Rede" bezeichnet. Dem Erzähler geht es durchaus nicht darum, dem Leser einen "Überblick" zu verschaffen. Er schildert bloß die sekundären Aktivitäten den Gerichts K. gegenüber und K.s ebenso sekundäre Antworten und Reaktionen. Diese sekundäre Welt ist ohne Kenntnis der primären aufgebaut. Über die primäre, die ursächliche bestehen nur die Hypothesen, die K., und mit ihm, sein Erzähler vom ersten Satz das Romans an konstruieren. Es entsteht daher ein wirkungsvoller Kontrast aus dem hypothetischen Erzählstil und den sekundären Vorgängen, die in ihm erzählt werden. Der Wirklichkeit des Prozesses, mit der sich K. eines Morgens konfrontiert sieht, wird von diesem sofort mit Vermutungen über die Voraussetzungen dieses Verfahrens und des Gerichtes selbst begegnet. Daher kommt es auch, daß er sich der Behörde gegenüber immer unangebracht benimmt und erst nachträglich seine Fehler einsieht. Umgekehrt vermögen jedoch K.s Hypothesen den Teil des Gerichts, der ihm erscheint, zu beeinflussen, an der Stelle nämlich, als K., der die Vorladung zur Verhandlung ohne genaue Uhrzeit erhielt und daher aufs Geratewohl 9 Uhr annimmt, für sein Zuspätkommen gerügt wird, als er erst um 10 Uhr anwesend ist. Im letzten Kapitel, nachdem K. "gelernt" hat, erwartet er zu Hause im schwarzen Anzug die Exekutoren, welche dann auch tatsächlich erscheinen.

Man darf die Bedeutung dieses Verzichts auf den erzählerischen Überblick, auf die "konventionelle Fiktion des allwissenden Erzählers" nicht unterschätzen. Sie bedingt eine neue Konzeption des Romans, nämlich Lückenlosigkeit des Erzählens, die vom Zwang der Rechtfertigung aus erforderlich wird. Kafka vermochte dies nicht völlig zu erreichen. Der Roman ist zwar äußerlich abgeschlossen, aber in seinem Innern fragmentarisch. Es kann ja auch nicht eine Entwicklung im gewöhnlichen Sinne dargestellt werden, weshalb das sonst übliche Verfahren der "fortschreitenden Handlung" seine Berechtigung verloren hat. Die einzelnen Kapitel sind autonom, sie zeigen jeweils nur eine Station unter vielen und lassen sich daher theoretisch beliebig vermehren, worauf auch die Existenz mehrerer Kapitelfragmente Kafkas hinweist. Andererseits vermochte Kafka das 8.Kapitel nicht zu vollenden, da die Entlassung des Advokaten durch K. weitreichende Konsequenzen gehabt hätte, deren Bewältigung sich Kafka wohl einstweilen entziehen wollte. Ebenso gibt es ein fragmentarisches Kapitel (I, 458), in dem K. die Vision seiner Erlösung erlebt. Diese Stelle mußte gestrichen werden, denn eine optimistische Vision hätte den Roman überstiegen und ihn zerbrochen. Das Aufbauprinzip den Werkes ist ein fragmentarisches: nämlich das zwangsläufige Abbrechen aller Vorstöße K.s zur Erreichung seines Ziels. Aus lauter Fragmenten mußte nun ein Roman zusammengesetzt werden. Dies wäre unmöglich gewesen, hatte nicht ein Kristallisationspunkt bestanden, an dem die übrigen Kapitel ihren Halt hatten finden können. Und dieses Zentrum des Romans ist die Türhütergeschichte. Die Ereignisse um K. thematisieren sie nur. Die Problematik von Kafkas Werk besteht darin, daß die Parabel innerhalb des Romans eine in jeder Hinsicht vollendete Verdichtung eben dieses Romans darstellt, der Roman darum herum jddoch nie jene Vollendung erreichen kann. Erwägungen solcher Art haben vermutlich Kafka veranlaßt, die Vernichtung des Werk anzuordnen.

Nun lieber Herbert, fürs erste will ich's mal gut sein lassen, obwohl natürlich noch vieles im Einzelnen zu betrachten wäre. Ich hoffe, Du konntest meinem vielleicht etwas verwickelten und nicht gleich einsichtigen Gedankengang folgen, mag es auch ein wenig Mühe erfordert haben. Möglicherweise hast Du aber mehr erwartet, etwa die Darlegung des Menschenbildes bei Kafka und dessen metaphysische Grundlagen, darunter fallend das Verhältnis zu Frauen, wie es sich im "Prozeß" unverkennbar äußert, oder mehr sozialkritische Betrachtungen über K.s Wechselwirken als Einzelner mit der Masse, wie sie von den verschiedenen Gruppen repräsentiert wird. Gewiß, es gäbe noch vieles, jedoch will und kann ich Dir nur einen Brief und keine Dissertation schicken. Den Zeitraum, bis ich - vielleicht - Doktorand sein werde, kannst Du inzwischen mit der Lektüre der viele tausend Titel umfassenden Sekundärliteratur über Kafka verbringen. Laß es Dir wohl ergehen.

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Literatur:

1. Franz Kafka: Der Prozeß, S. Fischer Verlag 1965

2. ders. : Beschreibung eines Kampfes, Frankfurt/M

3. ders. : Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande etc. Frankfurt/M

4. Beda Allemann: Der Prozeß, in B. v. Wiese: Der deutsche Roman II Düsseldorf