Das Ende der Morphologie

oder

Die Digitalisierung wahrnehmbarer Welt

von

Gerhard Bachleitner

© 1985, 1987

 

Übersicht

 

Einleitung

1. Von der Schwierigkeit, über Technik als Faktor der Kultur zu reden

2. Technik und Gestalt

I. Abstraktion und Reduktion

1. Erfahrung und Vermittlung

2. Selbst(miß)verständnis der Kultur

3. Reduktion und Synthese

4. Reduktion und Simulation

II. Eigenschaften des analogen und des digitalen Verfahrens

1. Analoge Reproduktion

2. Digitale Reproduktion

III.Anwendungsaspekte der Digitalisierung

1. Vereinheitlichung

2. Transformationen

3. Stochastik

4. Bildzerlegung

5. 'Ungestalt' digitaler Werkzeuge

IV. Ästhetische Konsequenzen

1. Wahlfreiheit als Bedingung von Kunst

2. Teleologie

3. Intuition und Kalkül

4. Örtlichkeit, Zeitlichkeit, Urheberschaft

 

Einleitung

1. Von der Schwierigkeit, über Technik als Faktor der Kultur zu reden

 

"Europa hat keine digitale Kultur." Dieser markante Satz des Philips-Chefs Dekker mag auf Kulturzeitschriften-Leser schockierend oder zumindest irritierend wirken. Er bezeichnet aber die gegenwärtige Lage. Es geht nicht allein um den vieldiskutierten technologischen Rückstand der Europäer in der IC-Technik - der viel geringer ist, als oft angenommen; die 'Unfähigkeit zum Markt' läßt so vieles in schlechtem Licht erscheinen - . Es geht um das Bewußtsein, das immer noch Kultur und Technik säuberlich trennt und sich nun allmählich von der Technik überrollt fühlt. Die Gleichung Kultur=Geist ist eine besonders deutsche Krankheit.

Leider unterstützt auch die historische und internationale Situierung unseres Vaterlandes die defensive oder ablehnende Haltung. Die Innovation kommt heute häufig aus dem Ausland, erscheint damit als Fremdes. Da das Tempo von außen diktiert wird, ist man selbst nicht 'Herr des Verfahrens' und assoziiert diese Entmündigung mit der Innovation selbst. Tatsächlich fällt man dann einer Selbstentmündigung zum Opfer, die man irrtümlich für Entmündigung durch die Technik erklärt.

Eine Kulturgeschichte der letzten Jahrtausende erweist sehr schnell die beherrschende Rolle materieller Faktoren; Kultur, anthropologisch betrachtet, bedeutet ein System der Informationsübermittlung, das dem biologisch- genetischen in wesentlichen Leistungen überlegen ist, vor allem in Verfügbarkeit und Zugriff. Sohin "kann man 'Kultur' geradezu als die Menge objektivierter Informationsspeicher bestimmen." Technische Artefakte haben nicht nur den Charakter von Institutionen, vielmehr sind "technische Artefakte überhaupt die einzigen außerpersonalen Entitäten [...], auf denen das Aggregationsphänomen [d.i.: die Kultur.G.B.] beruht."

Es ist also nicht damit getan, daß Siemens ihr Mega-Projekt realisiert und damit wieder technologischen Anschluß gewinnt. Vielmehr braucht es Nachdenken über die Veränderungen, die das Menschenbild durch die Entwicklung von Werkzeug erfährt, und zwar Nachdenken, das zunächst einmal alle Möglichkeiten des Werkzeugs positiv aufnimmt und nicht versucht, ihm von vornherein 'seinen Platz zuzuweisen' und ein bestimmtes Menschenbild zu konservieren. Jedes Werkzeug hat seine Würde. Und was die angeblich bedrohte Menschenwürde angeht: "Wieviel das Subjekt von seiner Reflexion auch an den Mechanismus abgibt, es wird dadurch nur reicher, weil ihm aus einer unerschöpflichen und bodenlosen Innerlichkeit immer neue Kräfte der Reflexion zufließen."

Die philosophische Diskussion der 'Denkmaschinen' war in der Anfangszeit, den 50er und 60er Jahren vornehmlich ontologisch orientiert. Man fragte nach dem "Bewußtsein der Maschinen". Die Maschinen waren noch keine Gegenstände der Praxis. Wenn wir heute nach den Konsequenzen der Digitalisierung fragen, untersuchen wir die Re-Konstruktion bisher allein dem Menschen vorbehaltener Informationsprozeduren durch die 'Denkmaschine'. Fortschreitende Verdichtung informationeller Funktionen in einer Maschine ermöglicht offensichtlich eine nachhaltige praktische Veränderung des menschlichen Umgangs mit Information (wozu auch die Kunst gehört). Information und Imagination erweisen sich als zwei Seiten der gleichen Sache. So, wie man früher schon von der Informationsrevolution gesprochen hat, ist inzwischen von der imaginativen Revolution die Rede (Wolfgang Goebel). Sie meint sowohl die Wiederbelebung bildhaft-mythischen Denkens als auch die zunehmende Bedeutung medialer, d.h. vermittelter Welt-Bilder; auf dem Fernseh- und auf dem Computerschirm wird immer mehr Welt zugänglich. Dieser Essay nimmt den gegenwärtigen Stand der Technik auf und betrachtet einige ästhetische Konsequenzen dieser Entwicklung. Die erwähnten Verfahren und Geräte existieren meist schon irgendwo, d.h. es handelt sich nicht um Extrapolationen, sondern um eine Zusammenschau des verstreut Vorhandenen zu einem Synergismus oder System.

 

2. Technik und Gestalt

 

Ungewöhnlich erscheint die Verwendung des Begriffs Gestalt, bzw. Morphologie für einen Prozeß technischer Innovation. Es zeigt sich aber, daß der Begriff Gestalt sowohl für das Gebiet der Technik, wie auch das Gebiet von Kunst oder 'Geist' höchst fruchtbar ist. Für die Kunst hat C.F. v. Weizsäcker ihn folgendermaßen definiert: Kunst ist die [...] Wahrnehmung einer Gestalt durch Schaffung einer Gestalt. Gestalt ist komplexe Ordnung, Information, und wird damit zum Gegenstand von Informationstheorie und Kommunikationstechnik. Der Unterschied zwischen analoger und digitaler Informationsübertragung ist am deutlichsten morphologisch faßbar.

Morphologische Betrachtung zeigt aber auch, daß die sich gegenwärtig vollziehende Neuerung Digitalisierung trotz ihrer spektakulären Auswirkungen kein grundsätzlich neues Verfahren, sondern nur eine neue Anwendung ist. Sie liegt eingebettet in eine längere Tradition von Gestaltreduktion. Vieles dessen, was sich als Aversion gegen Digitalisierung äußert, ist eigentlich Unwillen/Unvermögen, die Reduktion von Gestalt zu akzeptieren, und zwar, dies als Prinzip von Kultur überhaupt zu akzeptieren. Kultur beruht auf Reduktion von Gestalt ebenso wie auf Schaffung von Gestalt.

 

I. Abstraktion und Reduktion

1. Erfahrung und Vermittlung

 

Die Erfahrungswelt des Menschen als eines Kulturwesens ist eine vermittelte. Vermittlungsverfahren sind tendenziell technische Verfahren. Die Evolution der Kommunikation tendiert dazu, ihre jeweiligen (physikalischen) Grenzen zu überwinden. Lokale und temporale Präsenz sind die wesentlichen Bedingungen unmittelbarer Kommunikation. Die Schrift hebt die temporale Bindung von Lautäußerungen auf, Optik und Elektrizität lösen die Ortsbindung auf. Das Buchstabenalphabet ist eine Reduktion des lautlichen Kontinuums auf einige wenige Typen, eine symbolische Information wird erzeugt. Symbolische Kommunikation erfordert Vorwissen über die verwendete Codierung. Es findet ein fortschreitender Ausbau von Codierung und Vorwissen statt, entsprechend der Evolution der technischen Verfahren. Diese Verfahren sind an sich inhaltsneutral, von philosophischen Wahrheitsfragen abgelöst. Gegenstandsbereich der Vermittlung ist 'sinnlich wahrnehmbares'.

 

2. Selbst(miß)verständnis der Kultur

 

Kultur bedeutet die Emanzipation des Menschen von den natürlichen Bedingungen seiner Umwelt. Träger dieser Abstraktion ist die Sprache, Modell symbolischen Handelns. Die Eigenschaft der Sprache, Begriffe zu bilden, und der Mathematik, von realen Gegenständen zu abstrahieren, bewirken immer schon eine Reduktion von Gestalt. Gestalt, als Individualität, wird erst wieder mit Hilfe der generalisierenden und typisierenden Begriffe gewonnen - die Sprache übersteigt ihre Alltagsverwendung und erschafft in der Poesie eine eigene Welt. Bereits auf linguistischer Ebene läßt sich für unsere Zivilisationssprachen insgesamt eine Zunahme der digitalen Redeweise feststellen: "Die abbildende analoge Sprache tritt merklich hinter der digitalen Sprache, die sich nicht durch Bilder oder Icone, sondern durch Urteile, die aus Symbolen aufgebaut werden, äußert, zurück."

Wir stehen auf einer Pyramide der Abstraktion und möchten uns gerne von naturhafter Gestalt umgeben sehen. Das Aufkommen des Maschinenzeitalters und die Formulierung organizistischer Weltsicht, bei den Romantikern und bei Goethe, gehen Anfang des 19. Jahrhunderts parallel. Seitdem fühlt sich der 'Geist' der Kultur immer wieder von Naturwissenschaft und Technik bedroht. Das reduktionistische Programm der Naturwissenschaft erfaßt das materielle Substrat von Kulturwerken - in Form des mathematischen Informationsbegriffs. Menschliche Kommunikation dissoziiert sich in einen physikalischen relevanten Vorgang und einen imponderablen Rest. Die physikalische Seite optimiert sich entsprechend der Evolution physikalischer Erkenntnis. Musik wird als Schallereignis rekonstruiert, ein Bild als optisches, Literatur als textuelles. Dieser Vorgang ist - mit pessimistischer Stimmung - von Benjamin als 'Verlust der Aura' bezeichnet worden. Tatsächlich aber hat Benjamin damit dem Kunstwerk die Aura erst dekretiert, post festum, wie immer bei philosophischen Urteilen. Frühere Zeiten waren an der Reproduktion interessiert, nicht an der Aura. Kunst war dezidiert Handwerk, nicht Selbstidealisierung. In der informationstheoretischen Ästhetik wird diesem Sachverhalt Rechnung getragen: "Jede kommunikative Relation dieser Welt ist...als Signalprozeß bestimmt. Die Welt ist also als Inbegriff aller Signale bzw. als Inbegriff aller Signalprozesse zu betrachten."

Die physikalische Behandlung von Kommunikation beginnt bereits bei der Repräsentation von Sprache durch Buchstaben, d.h. durch Schrift, und bereits der von Platon dagegen vorgebrachte Einwand steht im Dilemma, den Signalprozeß voraussetzen zu müssen, während er gegen ihn argumentiert. Im 'Phaidros' zitiert Sokrates die Legende von der Erfindung der Schrift durch den Gott Theuth, der sie dem ägyptischen König Thamus anpreist. Thamus lehnt die Erfindung ab, weil sie das Gedächtnis der Menschen schwäche und das damit vermittelte Wissen äußerlich bleibe (274a). Sokrates schließt sich dieser Meinung an, aber für uns existiert sie und Platon überhaupt ja nur durch die objektivierende Schrift. Platon inaugurierte hier eine kulturpessimistische Denkfigur, die seither bei allen weiteren Objektivierungen der Kommunikation von neuem vorgebracht wurde. Sie hat ihren Platz nur in einem Denken, das die Wahrheit in der Welt als im Vorhinein gegeben ansieht und nicht die Ausfaltung der Welt selbst als erkenntnisgewinnenden Prozeß akzeptiert. Die Trennung der Worte von der Rede wird als Ablösung des Wissens von seiner Personbindung gefürchtet: Worte, "die doch unvermögend sind, sich selbst durch Rede zu helfen, unvermögend aber auch, die Wahrheit hinreichend zu lehren" (276c).

Diese Denkfigur findet sich gleichermaßen bei der Reflexion des menschlichen Wahrnehmungshorizontes überhaupt. Anläßlich der Gefahren durch physikalische Prozesse, für die der Mensch keine Sinnesorgane besitzt, die also mit Meßgeräten nachgewiesen werden müssen, wird gleich von der Entmündigung der Sinne gesprochen. Die private Verfügung über die Wahrnehmungsmittel ist aufgehoben.

Motiviert durch die Diskreditierung instrumenteller Vernunft wird hier die Ausdehnung des Wahrnehmungshorizontes durch Werkzeuge in eine Depotenzierung der biologischen Sinne des Menschen umgedeutet, umgefälscht.

Dem feinsinnigen Philosophen obliegt es - nach altem Brauch - die ätherischen und imponderablen Verluste beim Fortschreiten der Zivilisation zu konstatieren; der Pragmatiker - der dafür Geringschätzung erntet - verweist auf die gewaltigen Gewinne durch reduktive Verfahren.

Man kann diese Reduktionen auch als Bestandteil der Geschichte des schmerzhaften Abschieds des Menschen vom anthropozentrischen Weltbild lesen, die mit den Stationen Kopernikus und Darwin in Erinnerung gerufen sei. Sobald etwa Musik als Klang, d.h. Schwingung aufgefaßt wird, läßt sich die Fourier-Analyse anwenden: jede komplexe Schwingung ist als Summe einfacher Sinusschwingungen darstellbar. So unsinnig es wäre, diesem Gesetz, das schon altehrwürdigen Charakter hat - Fourier lebte um 1800 - ablehnend gegenüberzustehen, weil es die komplexe Gestalt 'vereinfacht', so unsinnig ist es, jedes andere Verfahren, das Morphologie reduziert, abzulehnen. Zur Rechtfertigung analytisch-reduktiver Verfahren siehe auch Goethe: "wir heben die Synthese der Natur auf, um sie in getrennten Elementen kennen zu lernen."

 

3. Reduktion und Synthese

 

Genau betrachtet gelingt durch die Reduktion sogar die Vereinbarung des Unvereinbaren, nämlich die Synthese von Abstraktion und Sinnlichkeit. Dies ist zugleich der Hauptsatz der Ästhetik, das Prinzip jeder Kunst. Reduktion steht am Beginn der Geschichte der Malerei mit den steinzeitlichen Höhlenzeichnungen, und sie ist die Voraussetzung der Schrift. Mit dem Übergang von mündlicher zu schriftlicher Literatur wird eine neue Ebene der Komplexität erreicht, Werke ausgefeilten Stils und großräumiger Teleologie werden möglich. Die Musik gewinnt durch Schallaufzeichnung eine neue Qualität, denn damit kann von den Beschränkungen der Konzertaufführung abstrahiert werden (die, wie man weiß, einen Karajan veranlassen, beim Dirigieren die Augen zu schließen), und trotzdem bleibt man nicht auf die Spiritualität der geschriebenen Partitur angewiesen, sondern kann am sinnlichen Eindruck teilhaben - ja dieser ist sogar noch optimiert, indem er musikalische Elemente hörbar macht, die naturaliter nicht hörbar wären. Der Reduktion menschlicher Kommunikation auf das gesprochene Wort verdankt sich das Telephon, und so, wie man einerseits beklagt, daß dies der Fähigkeit zum Gespräch abträglich ist, muß man andererseits feststellen, daß ohne es die heutige komplexe Gesellschaft nicht möglich wäre. Der Mensch vermag an vielen Diskursen gleichzeitig teilzunehmen. Gegenüber einer bloß schriftlichen Verbindung ist dann die auditive doch wieder ein Gewinn an Sinnlichkeit. Bei all diesen Reduktionen zeigen sich zwei Dinge:

a) die 'ursprüngliche' Form wird im Hegel'schen Sinne aufgehoben, d.h. sie wird überholt und zugleich bewahrt, d.h. sie bleibt weiterhin möglich.

b) Die Reduktion hat Spiritualisierung und Trivialisierung gleichzeitig zur Folge.

Indem die Technik die Synthese der Natur aufhebt, um sie in getrennten Elementen kennen zu lernen, kann sie jedes dieser Elemente für sich darstellen. Dieses Absehen vom natürlichen Zusammenhang einer Gestalt, vor allem von ihrem materiellen Substrat, ist ein Merkmal von Spiritualisierung. In der 'Welt des Geistes' ereignet sich Idealität. Eine hinreichend große Annäherung an Idealität gelingt nun aber auch durch die besagte Reduktion. Man darf als sicher annehmen, daß z.B. ein Mozart seine Werke in recht unvollkommenen Aufführungen gehört hat. Erst mit der Schallplatte wurde Perfektion real. Das Werk findet hier seine menschenmöglich ideale Gestalt, und ideal, im Sinne von: virtuell, sind die Reproduktionsbedingungen. Der Hörer sitzt in einem imaginären Konzertsaal - dessen Räumlichkeit er ggf. sogar wählen kann - und ist insofern der Beschränkung seines realen Hörraums enthoben. Er kann das Werk (mit dem Walkman) aber auch mit ins Freie nehmen und z.B. Beethovens Pastorale gewissermaßen an Originalschauplätzen hören. Das hat allerdings auch seine Schwierigkeiten, denn Beethoven gab ja erklärtermaßen mehr Empfindung als Malerei, d.h. es kam ihm mehr auf Erweckung von Gefühl als auf Abbildungstreue an. Nachträglich erweist sich an jeder Kunst, die realistisch sein, also die Illusion der Wirklichkeit erwecken wollte, daß sie doch mehr ihren eigenen Formgesetzen gefolgt ist. Ihre Konfrontation mit der von ihr dargestellten Wirklichkeit fällt daher enttäuschend oder uninteressant aus.

Da Reproduktion immer auch massenhafte Rezeption zur Folge und zur Voraussetzung hat, bedeutet sie zugleich Trivialisierung. Bildungsvoraussetzungen, die vordem dem Verständnis von Kunst zugearbeitet haben, fallen nun weg; das Kunstwerk wird ohne Kenntnis seiner Geschichtlichkeit konsumierbar.

 

4. Reduktion und Simulation

 

Perfektion einer Abbildung und Simulation sind zwei Aspekte der selben Sache. Die Mittel, ihn zu repräsentieren, ermöglichen auch, einen beliebigen und jeden erdenklichen anderen darzustellen. In dem Maße, wie die Annäherung an eine einzelne Gestalt gelingt, werden alle möglichen Gestalten zugänglich. Je authentischer die Gestalt erscheint, desto artifizieller ist sie - womit die beiden Extreme zusammenfallen und ihre Bedeutung verlieren. Die Analyse des Es ist erzielt die Synthese des Als ob.

Statt des Wittgenstein'schen Diktums "Die Welt ist alles, was der Fall ist" würde man informationstheoretisch eher sagen: die Welt ist alles, wovon wir eine Nachricht haben. Der Ersatz des Faktischen durch Repräsentanzen ist eine anthropologische Konstituente, die Dominanz einer sekundären, medialen Welt über die primäre sohin ganz 'natürlich'. Die Transformation von Ereignissen und Objekten in Signale hat den Vorteil, daß im Signal die Unterscheidung zwischen Ereignis und Objekt aufgehoben wird, d.h. das Signal ist zugleich 'Ereignis' und 'Objekt'.

 

II. Eigenschaften des analogen und des digitalen Verfahrens

Analoge Reproduktion versucht, die Gestalt als sie selbst zu übertragen. Ein gegebenes Eingangssignal soll am Ausgang der Übertragungskette identisch wiedererscheinen. Diese Identifikation gelingt aus prinzipiellen Gründen nicht. Haupthindernisse sind das Rauschen - mit dem jeder materielle Körper über 0 K behaftet ist - und Verzerrungen.

Die Morphologie kennt nur Individualitäten/Singularitäten. Sie konstituiert das 'Organische' als nicht re(pro)duzierbare Einheit, erliegt damit der Illusion der Kohärenz. In Goethes Worten besteht Morphologie darin, "die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äußern, sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Innern aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen."

Jede Vermittlung bedingt Übertragung. Ein Übertragungssystem muß linear (Formerhaltung) und stationär (Proportionalität zwischen Eingang und Ausgang konstant) sein. Real bilden sich jedoch lineare und nichtlineare Verzerrungen.

Analoges/morphologisches Denken ist anthropomorph, d.h. dem Menschen bis zu einer bestimmten Entwicklungsstufe angemessen. Das entsprechende technische Übertragungsverfahren kommt mit relativ geringem Aufwand bei brauchbarer Annäherung an das zu übertragende Original aus.

Digitale Reproduktion überträgt die Gestalt als Summe beliebig vieler Teile, die sie am Ausgang der Übertragungskette wieder zusammensetzt; Die Digitalisierung zerlegt jede Schwingungsform in eine Folge von Abtastwerten; individuelle Ausprägungen werden in den metrischen Rahmen gestellt. Mathematisches Modell dieses Verfahrens ist die Differentialrechnung, die die Erfassung einer beliebig unregelmäßigen Gestalt in endlich vielen Schritten mit hinreichender Genauigkeit erlaubt. Digitalisieren heißt laut Wörterbuch "Daten und Informationen in Ziffern darstellen". Das Signal wird 'von außen', d.h. mit einer Frequenz, die mindestens doppelt so groß wie die höchste zu übertragende Frequenz ist, abgetastet (Shannon'sches Abtasttheorem). Die Gestalt wird somit zum Gegenstand. Statt Identifikation Reflexion. Die Digitalisierung hebt die Gestalt ideal auf.

Das Digitalsignal stellt eine Übertragung von Information in unzusammenhängender Weise dar. Lineare Codierung moduliert einem Träger die digitale Information auf. Information und Träger sind in ihrer Gestalt so verschieden, daß die unvermeidliche Beeinträchtigung des Trägers bei der Übertragung sich nicht auf die Information selbst auswirkt. Die Information läßt sich erkennen und regenerieren. Die Überlegenheit der Digitalisierung ist technisch in folgenden Kategorien von Belang:

Genauigkeit der Übertragung,

Toleranz der Bauteile; nicht die Körper 'haften', sondern die numerische Normung

Konstanz des Systems; es gibt keine Alterungsprobleme

Kein Eigenrauschen der Bauteile, nur das minimierbare Quantisierungsrauschen der Abtastung

Mehrfachnutzung (Multiplextechnik, Verschachtelung in Raum und Zeit) Produktion in integrierter Form (als 'Chip')

(nach H.W. Schüßler: Digitale Systeme zur Signalverarbeitung. Springer 1974.)

Trotzdem bleibt gültig, daß reale Systeme keine idealen Verhältnisse herstellen können. Je stärker ein Übertragungskanal genutzt wird, desto mehr Fehler entstehen bei der Übertragung, so daß eine Fehlerkorrektur nötig wird. Diese geht unvermeidlich auf Kosten des Informationsflusses. Die Fehlerkorrektur arbeitet mit künstlich hinzugefügter Redundanz.

Die Digitalisierung erweist die 'natürliche' Redundanz analoger Signale. Es ist möglich, das Analogsignal auf die wesentlichen Informationsbestandteile zu analysieren, nur dieses Gerüst zu übertragen, und bei der Wiedergabe/Empfang die Redundanzteile hinzuzufügen (per Frequenz- und Rauschgenerator). (Vocoder)

An der Erforschung dieser Redundanz besteht schon deshalb großes Interesse, da der Aufwand bei der Digitalisierung außerordentlich hoch ist. So würde z.B. ein gewöhnliches Fernsehsignal mit 5 MHz Bandbreite bei 'normaler' PCM-Codierung 100 MHz erfordern. Man arbeitet daher an Kompressionsverfahren. Gebräuchlich sind Kompressionsfaktoren zwischen zwei und zehn.

Das digitale Verfahren ist technomorph, dem Menschen ab einer bestimmten Ebene intuitiv nicht mehr einsichtig. (Diese Verständnisschranke gilt für alle wesentlich rekonstruktiven Ansätze, z.B. Quantenphysik, Astrophysik; der Mensch findet, unterhalb der Ebene seiner eigenen Morphe, an sich selbst nur noch bedingt verständliche Prozesse). Das digitale Übertragungsverfahren erfordert hohen Aufwand und reproduziert original.

 

III. Anwendungsaspekte der Digitalisierung

1. Vereinheitlichung

 

Die Reduktion verfährt im digitalen Verfahren so elementar, daß eine 'Große Vereinheitlichung' (wie in der Kernphysik) der eingebrachten Morphologien zu Stande kommt. Text, Bild und Klang erscheinen in ihrem gemeinsamen informationellen Substrat und werden ineinander überführbar/aufeinander abbildbar. Die z.B. in der Romantik angestrebte Universalkunst, als Synästhesie mehrerer Wahrnehmungen, ergibt sich durch die Digitalisierung auf der Ebene des Substrates. (Können solche projektiven und programmatischen Synthesen überhaupt anders als in 'materialistischer' Form Wirklichkeit werden?).

Novalis: "Das Weltall zerfällt in unendliche, immer von größeren Welten wieder befaßte Welten. Alle Sinne sind am Ende Ein Sinn. Ein Sinn führt wie eine Welt allmählich zu allen Welten. Aber alles hat seine Zeit, und seine Weise" (H.v.Ofterdingen).

Den subjektiven, aktiv gestaltenden Aspekt eines Universalkonzeptes betont H. Hesse in seinem Glasperlenspiel: Das Glasperlenspiel ist ein Spiel mit sämtlichen Inhalten und Werten unserer Kultur. Die unendliche Bezüglichkeit, die sich Hesse hier vorstellt, wäre auf dem Boden einer digitalen Kultur zu denken. Vereinfachung und Vereinheitlichung ist eine regulative Idee in Mathematik und Ästhetik. Informationstheoretisch wird man in dieser Tendenz eine Entsprechung zur allgemeinen Entropie sehen. Die durch die Digitalisierung geleistete Vereinfachung steht also im Rang eines Postulats.

Die Überwindung von Gestaltgrenzen hat den Charakter eines Desiderats, insofern sie die Möglichkeiten schöpferischen Umgangs mit der Gestalt vermehrt.

Die Synthese wird eine Synthese von Verschiedenem bleiben, es entsteht keine irrationale Alleinheit. D.h. es ist mit der Digitalisierung auch nicht die totale Kommunikation zu erwarten. Für die bisherigen Gestaltgrenzen treten neue Grenzen auf. Wenn auch ein Buch nicht mehr durch die umschließenden Buchdeckel definiert ist, wird es, schon aus juristischen Gründen, weiterhin als Einzelwerk existent bleiben. Und auch wenn das gesamte Wissen der Zeit in Datenbanken verfügbar ist, kann es sich das Individuum jeweils nur in einem kostenträchtigen und Zeit verbrauchenden Zugriff, der Ernüchterung schafft, einverleiben. Bereits bei Einführung des Buchdrucks ließ sich ja feststellen, daß nunmehr das gesamte Wissen der Zeit öffentlich und ohne institutionelle Restriktion vorliege. Einem Menschen von damals erschienen vielleicht die 5 Millionen Bände der Bayr. Staatsbibliothek als transzendentes Faktum; wie pragmatisch wir damit umgehen, ist jedem aus eigener Erfahrung bekannt.

Die Vereinheitlichung bündelt die (oft beklagte, zerstreuende) Vielfalt der elektronischen Medien. Die ästhetischen Phänomene erweisen sich - im individuellen Vollzug - als je spezifische Ausfaltungen von Information und sind damit der größtmöglichen Einsicht (in sie selbst) geöffnet. Eine technische Chiffre für diese Vereinheitlichung ist bereits vergeben, von der für den Systemaufbau zuständigen Post: ISDN, diensteintegrierendes Digitalnetz, und entsprechende Universalgeräte existieren schon.

 

2. Transformationen

 

Gegebene Information kann verschiedene Gestalt annehmen. Ein gedruckter Text kann durch elektronische Abtastung digital codiert werden und ist in dieser Form der Weiterverarbeitung zugänglich. Ein digitaler Text kann in beliebiger Form ausgedruckt oder auch, durch ein Sprachmodul, 'ausgesprochen' werden (die Vorleserin früherer Zeiten scheint also wieder zu kommen). Umgekehrt wird auch an der Digitalisierung gesprochener Sprache gearbeitet, d.h. am syntaktischen Verstehen von Sprache durch die Maschine, und Teillösungen existieren bereits. Entsprechendes gilt für Bild- und Klangdigitalisierung.

Gegebene Information, d.h. Ordnungspotential läßt sich ferner in den verschiedenen Gattungen sinnlich darstellen und von einer in die andere überführen. Nach Festlegung eines Zuordnungsalgorithmus ist z.B. Musik mit einem Videodigitizer fortlaufend in bewegte Bilder verwandelbar. Umgekehrt kann eine Bildfolge einen Synthesizer ansteuern. In der analogen Technik gibt es rudimentäre Vorformen derartiger Transformationen, z.B. die Lichtorgel. Diese ist zwar zum bloßen Diskothekeneffekt verkommen - wirksam genug allerdings - , hat aber in Skrijabins Farbenklavier-Projekt auch einen seriösen Ahnherrn. Man sollte solche Transformationen also nicht von vornherein zur geistlosen Spielerei erklären.

Zweifellos ermöglichen jene Verfahren nunmehr, einen weit größeren Anteil der mathematisch möglichen Bilder und Klangfolgen sichtbar und hörbar zu machen, als es der auf Gestalten fixierte, und d.h. auch auf ästhetische Vor-Urteile geeichte Mensch vermöchte. Für die Literatur hat Borges die Gesamtheit möglicher Gestalten in der 'Bibliothek von Babel' thematisiert; für Musik und Malerei gilt die gleiche Struktur.

Die Transformationen zeigen jedoch auch, daß die Ordnungsstruktur in den verschiedenen Gattungen verschieden ist. Anders ausgedrückt: die Ausschöpfung der mathematisch möglichen Gestalten ist von unterschiedlichem ästhetischem Reiz. Während ein musikgesteuertes 'Zufallsbild' sehr attraktiv sein kann, mag ein videogesteuertes Musikstück den Ohren etwas gewöhnungsbedürftig sein, und als Sprache ausgegeben wird keiner diesen Text lesen wollen, denn wenn, wie naheliegend, einzelne Buchstaben codiert und decodiert werden, entstehen in aller Regel nur Nonsenswörter.

Die Ordnung der Sprache liegt nicht allein in den Buchstaben, sondern in Wörtern und syntaktischen Strukturen. Selbst wenn der Zuordnungsalgorithmus die Wörter des Lexikons zum Gegenstand hätte, wäre das ästhetische Vergnügen noch gering, weil die syntaktischen Bedingungen nicht eingehalten werden; andererseits fallen dann ästhetisch reizvolle Neubildungen (siehe Morgenstern, Jandl, Joyce) bereits heraus. Aber selbst wenn die syntaktisch-semantische Analyse natürlicher Sprachen sehr viel weiter entwickelt sein wird, bleibt doch ein seltsames Desinteresse an 'sinnfreier' Literatur, wie man sich an den Gedichten Hölderlins aus der Umnachtungszeit klarmachen kann. Trotz ihrer formalen Vollkommenheit vermögen sie den Leser kaum zu fesseln.

Sprache dient offenbar wesentlich der Mitteilung, ist unmittelbares Werkzeug des Begriffs, und was Phantasie in/an ihr sein kann, ist die Nachbildung virtueller Welten, in sich weithin stimmiger Alternativentwürfe. Ob Sprache in solcher dienenden Funktion grundsätzlich verharren muß, ist hier nicht Gegenstand der Untersuchung, scheint beim heutigen Wissensstand auch kaum abschätzbar. Novalis bemerkt zu diesem Problem: "Für den Dichter ist die Poesie an beschränkte Werkzeuge gebunden, und eben dadurch wird sie zur Kunst" (H.v. Ofterdingen)

Für den vorliegenden Zusammenhang läßt sich lediglich feststellen, daß eine Transformation von Sprache (als Text) in die anderen beiden Gattungen sehr viel 'sinnvoller' erscheint als umgekehrt.

Im übrigen expliziert und präzisiert jede Transformation die beteiligten ästhetischen Syntaxen.

 

3. Stochastik

 

An der elektronischen Musik mag man studieren, wie die Ausweitung ästhetischen Handelns in den Bereich des Stochastischen hinein abläuft und wie die Wechselbeziehung zwischen musikalischer Syntax und mathematischem Möglichkeitsraum beschaffen ist. Hier nur einige Orientierungspunkte.

In ihrer ersten Blüte in den 50er Jahren herrschte durchaus Euphorie über die prinzipiellen Möglichkeiten, aber der Musikbetrieb erwies sich als konservativer und wollte die behauptete Überlegenheit der neuen Kunst nicht so recht abnehmen. Das hat offenbar mit musiksoziologischen Faktoren zu tun, denn die elektronische Musik ist ja nicht für reale Räume geschaffen worden, und hat im Konzertsaal kaum Platz. Die Mißachtung des Gestaltelementes 'Aufführung' (durch lebende Personen) konnte auch erst behoben werden, als es in 'Echtzeit' spielbare Klangcomputer, Synthesizer, gab. Auf der Schallplatte findet elektronische Musik eine gewisse Rezeption, und zwar mit charakteristischen Schwerpunkten: einmal als psychedelische Musik, zum anderen zur Substitution relativ realer Klänge in der Pop-Musik ("Synthie-Pop"). Beide Richtungen sind eher chthonisch charakterisiert. Das erlaubt die Vermutung, daß stochastisch ausgeweitete Kunst sich einer weniger 'elaborierten' ästhetischen Syntax bedient, als völlig handgearbeitete.

4. Bildzerlegung

Die Digitalisierung von Bildern ist ein zweistufiger Prozeß. Auf der ersten Stufe wird das Bild in ein Punktraster zerlegt. Jedes Zeitungsfoto benutzt die Technik binärer Codierung: in einem Raster sind Schwarz und Weiß die einzig möglichen Tonstufen. Die Graustufung entsteht durch unterschiedlichen Anteil von Schwarz und Weiß am Bildaufbau. Eine gewissermaßen dynamische Version dieses Rasterverfahrens haben wir in den bekannten Matrixdruckern vor uns. Die Buchstaben werden aus einzelnen Punkten aufgebaut. Man kann daher die unterschiedlichsten Typen generieren, kann Fraktur genauso gut setzen wie Keilschrift, choreographische Notation oder Neumen.

Die Rasterung ist auch die Grundlage des gewöhnlichen Fernsehens. Übertragen wurde das Bild bisher jedoch immer als Ganzes, als Gestalt (25 mal pro Sekunde). Wenn nun jeder Bildpunkt einzeln erfaßbar, numerisch darstellbar ist, lassen sich mit dem Bild völlig neue Operationen anstellen. Einige beliebige Beispiele seien angeführt:

aus Pop-Sendungen des Fernsehens kennt man die Effekte mit ineinander übergehenden, sich drehenden, kippenden, solarisierten, zerstäubenden, mosaikisierten usw. Einzelbildern. Während also etwa eine Banane und ein Automobil als Gegenstände nichts gemeinsam haben, gibt es auf der Ebene der (digitalen) Darstellung einen kontinuierlichen Übergang zwischen beiden. Ein solcher zweckfrei-spielerischer Umgang mit Gestaltgrenzen erlaubt es, bisher nur verbal imaginierbare Assoziationen zu verbildlichen.

Mangelhafte Stehbilder (Fotos) lassen sich durch Digitalisierung in wesentlichen Parametern rekonstruieren: Kontrastkorrektur, Ausgleich von Unter- und Überbelichtungen, Farbkorrektur (aber auch bewußte Farbverfälschung), Schärfenverbesserung usw. Man kann Bilder addieren und subtrahieren, kurzum alle möglichen numerischen Verfahren anwenden.

In der Medizin wird von der Subtraktion bei der 'digitalen Subtraktions- Angiographie' Gebrauch gemacht: das Bild der (röntgenologisch) leeren Blutgefäße wird vom Bild der gefüllten Blutgefäße abgezogen, und die Auflösung ist so gut, daß das Verfahren für Arzt und Patient gleichermaßen Vorteile bringt. In der plastischen Chirurgie sind Operationsergebnisse durch digitale Bildveränderung extrapoliert darstellbar.

In der Geographie sind Satellitenbilder von großem Nutzen: je nach Verwendungszweck ist ein Einzelbild (farblich) unterschiedlich gestaltbar, sieht für die Wasserwirtschaft anders als für die Forstwirtschaft und wieder anders für die Bodenschatzprospektoren und das Militär aus; das Bild besitzt keine unveränderliche Gestalt an sich mehr.

 

5. 'Ungestalt' digitaler Werkzeuge

 

Die relative Beliebigkeit einer Endgestalt in Bezug auf ihr informationelles Substrat bildet sich auch in der Hardware, dem Körper der digitalisierenden Geräte selbst ab. Für den Designer, also den Künstler, der eine Beziehung zwischen Form und Funktion eines Gerätes herstellt, entsteht die Schwierigkeit, "daß es kaum noch Inhalte gibt, denen man Ausdruck verleihen könnte. Schon heute verpacken wir bei den elektronischen Geräten weitgehend Luft. Die Geräte müssen aus ergonomischen Gründen der Bedienbarkeit bestimmte andere Abmessungen haben." (H. Schultes, Siemens).

Demnach folgt die Funktion der Form, und die Form ist viel freier wählbar als die Funktion. Am Ende ist die Form wieder 'human', d.h. anthropomorph, denn sie wird den Sinnesorganen des Menschen angepaßt. Die früheren, mechanischen Werkzeuge griffen dagegen 'selbstsüchtig' in das menschliche Bewegungsverhalten ein. Durch die Miniaturisierung bringen sich die Kommunikationsgeräte auch optisch zum Verschwinden, stören also nicht.

 

IV. Ästhetische Konsequenzen

1. Wahlfreiheit als Bedingung von Kunst

 

Der größtmögliche Einblick des ästhetischen Urhebers in die Gestalt ist so vorteilhaft/überwältigend, daß er auf die Digitalisierung, kennt er sie erst einmal, nicht mehr verzichten will. Der wahlfreie Zugriff über die ganze Hierarchie der Gestaltkomponenten hinweg - beim Text: Buchstabe, Wort, Satz, Absatz, Kapitel - vermittelt das Gefühl, erst jetzt die Gestalt von Grund auf zu beherrschen. Schreiben auf Papier hat demgegenüber den Anschein einer beschränkten, da irreversiblen Zwischenspeicherung.

Der wahlfreie Zugriff über die Gattungsgrenzen hinweg ist teilweise gleichbedeutend mit der Überschreitung institutioneller Grenzen. Hierfür ein Beispiel aus der Musik.

Ein digitalisierter Notentext kann von einem Synthesizer als Musik ausgegeben werden, wobei die Klangfarben für jede Stimme frei wählbar sind. Mit einiger Annäherung gelingt die Simulation von Orchesterinstrumenten. Auf diese Weise nun fällt es dem musikalisch gebildeten Benutzer leicht, beispielsweise Klaviermusik fürs Orchester zu bearbeiten. Er kann dabei sein Stilgefühl entwickeln, muß nicht unnötig Zeit für Notationen aufwenden und ist auf kein reales Orchester angewiesen, das ja selbst Musikstudenten nicht ohne weiteres zur Verfügung gestellt bekommen. So kann die Bearbeitungspraxis früherer Jahrhunderte auch in unserem Jahrhundert fruchtbar weitergeführt werden.

Daß der Synthesizer umgekehrt aus gespielter Musik auch einen Notentext herstellen kann, versteht sich. Dabei findet eine sinnvolle Rückkoppelung zwischen der praktischen und der konzeptionellen Seite der Musik statt: die eben gespielte Gestalt erscheint quasi gleichzeitg in ihrem strukturellen Korrelat und ist der zeitunabhängigen Analyse geöffnet.

Der Analyse einer digitalisierten Partitur stehen alle formalisierbaren Verfahren zu Gebote. Bereits die Darstellung des realen Klangumfangs durch 'Herauskürzen' von Klangverdoppelungen kann recht instruktiv sein. Häufigkeitsverteilungen einzelner Strukturelemente liefern Material für Stilurteile. Das alte Problem der Notation von Musik kann neu bedacht werden - durch mühelose Realisierung beliebiger Notationsalternativen.

Die Freiheit der Klangerzeugung erlaubt auch tiefergehende Eingriffe in die Musik. Daß die Tonhöhe variabel ist und somit z.B. Des-Dur ohne weiteres als C-Dur gespielt werden kann, wird den echten Musikfreund kaum reizen. (Damit wird übrigens auch die Tonart als 'materielle' Gestalt liquidiert, ein Prozeß, der mit der Reduktion der Kirchentonarten auf Dur und Moll begann und mit der Zwölftontechnik auf der konzeptuellen Ebene abgeschlossen wurde. Nun verschwindet auch die 'Griffgestalt' einer Tonart.)

Darüber hinaus läßt sich die Stimmung variieren. Außer der seit Bach als Standard benutzten gleichschwebend temperierten Stimmung kann man ungleichschwebend temperierte, z.B. die mitteltönige, einstellen, man kann die Oktave in Ganztöne teilen, in Drittel- und in Vierteltöne - Varianten, die zu realisieren bislang wenigen Spezialisten auf meist sehr speziellen Instrumenten vorbehalten waren. Derartige Möglichkeiten sind im Stande, den musikalischen Horizont deutlich zu erweitern.

 

2. Teleologie

 

Die größtmögliche Wahlfreiheit in der Konstitution der Gestalt hat zur Folge, daß sich ihr teleologischer Aspekt ändert. Der Produzent ist keinem linearen als einem finalen Ablauf unterworfen, sondern kann die Teile der Gestalt beliebig zusammensetzen. Die Arbeitsweise wird 'modular'. Das modulare Prinzip ist in der Technik die genaue Entsprechung zur Organik bei organischen Prozessen und Wesenheiten.

Der Text, den Sie eben lesen, am Computer geschrieben, trägt bereits diese Merkmale. Ausgangsmaterial war ein zweiseitiges Expose; aus diesem Destillat gingen eine siebenseitige und eine zwölfseitige Zwischenfassung hervor, und nach einigen Monaten des Reifens war eine erste Endfassung mit 15 Seiten fertig. Eineinhalb Jahre später wurde die Arbeit wieder aufgenommen, und es entstand eine Fassung von 21 Seiten. Wenn Ihnen der Text in digitaler Form übermittelt würde, z.B. auf einer Floppy Disk, könnten Sie anhand (reversibler) Markierungen die Urform vor sich sehen, und es könnten auch die einzelnen Phasen des Textwachstums dokumentiert werden. Der Text wäre zugleich seine eigene historisch-kritische Ausgabe. (Im Bereich der historisch-kritischen Ausgaben findet z.Z. ein Abschied von der Morphologie als Teleologie statt, wie am Vergleich zwischen Beißners und Sattlers Hölderlin zu sehen ist.)

In primitiver Form - anders ausgedrückt: auf Bürobedürfnisse zugeschnitten - ist das bei den heutigen Maschinen bereits realisiert. Die meine z.B. verfügt über den Befehl 'Historie eines Dokuments', der folgende Kategorien enthält, die automatisch ausgefüllt werden:

Name des Autors, zuerst zuletzt

Dokument benannt am:

zuletzt bearbeitet am:

zuletzt gedruckt am:

erste Seite: Seiten insgesamt

Paßwort für Lesen/Bearbeiten ja/nein.

Nun haben 'handarbeitende' Autoren ja oft recht tief in ihre Texte eingegriffen, also z.T. ähnlich gearbeitet, wie mit dem Computer möglich. Aber zum einen benutzten sie dafür doch meist den maschinellen Vorgang des Satzes, d.h. sie korrigierten in die Druckfahnen, bzw. Korrekturbögen hinein. Und zum anderen ist es durchaus ein Unterschied, ob ein Text mühsam von Hand organisiert wird, wobei jede Korrektur grundsätzlich Ausdruck von Mangelhaftigkeit ist, oder ob Korrektur als Möglichkeit in das Verfahren von vornherein eingebaut ist, d.h. grundsätzlich gleich mit der Eingabe behandelt wird. Alles, was in der Maschine an Textarbeit im engeren Sinne gemacht wird, läuft unter dem Befehl 'Bearbeiten'.

Erst in der Maschine vermag sich der Text 'organisch' zu entwickeln, da nur hier keine Prätention auf die Endgestalt vorgenommen wird. Oder anders ausgedrückt: hier ist die Herrschaft der Endgestalt über den Autor weniger unmenschlich. Erst die Reduktion des Textes auf das informationelle Substrat eröffnet den Freiraum, in dem sich Wörter und Sätze ungehindert zur größeren Einheit zusammenfügen. Das modulare Arbeiten entspricht besser der assoziativen und Verzweigungen anlegenden Denkart des Menschen. Es läßt Stufen im Vollendungsprozeß entstehen, und dem Denkenden scheint besonders entgegenzukommen, wenn er jeweils Etwas an Vorhandenes anlagern kann. (Die Philosophie beispielsweise lebt seit der unermüdlichen Kommentararbeit der Scholastiker an den antiken Klassikern recht eigentlich von der Anlagerung neuer Gedanken an überkommenen.)

Wie Denken Probehandeln ist, ist Computerarbeit Probedenken.

Das Prinzip der Diskontinuität prädisponiert die Computerarbeit zur offenen Form und zur Collage. Diese Freiheit hat auch zur Folge, daß der Autor etwas nonchalanter formuliert - weil er weiß: jedes Wort ist beliebig und vorläufig. Es fehlt der Respekt, den man vor dem Papier als einem Träger von 'Ewigkeitswerten' hat. Eine Dichterhandschrift, z.B. ein Zettel von Goethe, wird als Kostbarkeit unter verschlossenem Glas aufbewahrt - der Text in der Maschine besteht nur aus einer Folge flüchtiger Ladungen. Daß der Goethe'sche Zettel vielleicht ebenso flüchtig gemeint war, wird durch die Maschine in Erinnerung gerufen; die Entrückung der Literatur ins Überzeitliche wird korrigiert.

Die Leichtigkeit der Textkonstitution hat überdies die Folge, daß der Text, um verantwortbar zu werden, durch mehr Instanzen der Beurteilung geht. Alle verfügbaren Freunde und Bekannte - soweit dann noch vorhanden - beschickt der Autor mit den verschiedenen Fassungen eines Werkes und holt ihre Meinung ein. Der Text lebt stärker in der Mitwelt.

 

3. Intuition und Kalkül

 

Das Verhältnis zwischen Zufall und Ordnung, Inspiration und Konvention, ändert sich bei der Herstellung der Gestalt insofern, als wirkmächtige maschinelle Verfahren für die Veränderung gegebener Gestaltelemente zur Verfügung stehen. Die Wirkmächtigkeit ergibt sich daraus, daß es mathematische Verfahren sind, also solche von exakter und allgemeiner Wirkung. Beispiele wurden bereits mehrfach gegeben. Zu den heute bekannten automatischen Verfahren werden in absehbarer Zeit solche der 'Künstlichen Intelligenz' treten, Verfahren also, grob gesagt, mit Lernfähigkeit. Diese neue Eigenschaft wird die Rolle der Maschine in kreativen Prozessen weiter verändern.

 

4. Örtlichkeit, Zeitlichkeit, Urheberschaft

 

Die Digitalisierung verändert Orts- und Zeitbezug der Gestalt. Die Gestalt ist nicht mehr im früheren Sinne der Einmaligkeit geschichtlich fixiert, da die originale Übertragung an andere Orte und die originale Speicherung für andere Zeiten Einmaligkeit ausschließt.

Durch das weltweite Kommunikationsnetz ist eine digitalisierte Gestalt überall original repräsentierbar, und bei der Reproduktion ist die xte Kopie so original wie die erste. Für die Rezeption fallen also Phänomene wie örtliche Entfernung, zeitlicher Abstand, Zugangsrestriktionen usw. weitgehend aus.

Der Mangel an Originalitätsmerkmalen macht individuelle Urheberschaft und authentische Beglaubigung schwer.

Geistiges Eigentum ist kaum zu sichern, wie die vergeblichen Kämpfe von Software-Produzenten gegen Raubkopierer zeigen. Folgerichtig entstand eine Bewegung, Programme zum Allgemeingut zu erklären, englisch Public Domain. So, wie in den natürlichen Sprachen die Erfahrungen aller Menschen gesammelt sind, stehen in diesem Programmschatz die spezifischen (Er)Kenntnisse Einzelner Allen zur Verfügung.

Urheberschaft kann bei einem digital vorliegenden Kunstwerk nur auf Treu und Glauben angenommen werden. Jeder, der es in die Hand bekommt, kann es verändern und verändert weitergeben. Eine Gattung, die wesentlich auf Geschichtlichkeit, zeitlicher Einmaligkeit beruht, wie das Tagebuch, verliert durch Digitalisierung jegliche Grundlage; jedes Stück Vergangenheit ist im Lichte der Gegenwart neu gestaltbar. Wenn trotzdem ein digitales Tagebuch geführt wird, dann unter der Voraussetzung, daß ein solcher Kurzschluß keinen Gewinn für die eigene Existenz bedeuten und das ganze Unternehmen also überhaupt sinnlos machen würde.

Die digitale Gestalt ist Gestalt nicht natura, sondern conventione. (Argument für den Nominalismus). Die Gestalt durch Konvention ist aber nicht völlig ungebunden. Konvention bedeutet auch gesellschaftliche Abmachung. Und die Gesellschaft kommt durch die Software in den digitalen Prozeß. Von Programmierern abgesehen nutzt der Computeranwender vorgefertigte Programme. Was diese ihm an Möglichkeiten nicht bieten, vermag er auch nicht zu realisieren. Die Form öffentlich vertriebener Programme erlangen aber nur solche Ausdrucksbedürfnisse, von denen größere Verbreitung im Publikum angenommen wird. Im übrigen wird über den Preis reguliert. So bildet sich die Bedürfnisstruktur der Gesellschaft auch in der digitalen Welt ab.

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Wir haben, wie zu sehen war, von der Rettung der Morphologie ebenso wie von ihrem Ende gehandelt. Die Synthese beider Antithesen darf nicht zu kurz gedacht werden; man erwarte keine gemütliche Versöhnung. Liebgewordene Vorstellungen gehen allemal zu Bruch. Es gibt (wenn denn ein Trost gegeben werden soll) kein Material keiner Technik - das Material wird vom Werkzeug gleichermaßen geschaffen wie das Werkzeug vom Material -, das nicht zum Gegenstand von Kunst gemacht werden kann.