Der Kult des Authentischen

Der Kult mit der Werktreue. Marginalie, gesendet im BR am 19.3.1985

dass. erweitert als:

Der Kult des Authentischen. In: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken. 7/1985, S. 628-632

 

"Kennen Sie Mozarts Requiem?" - "Natürlich", werden Sie als auch nur mittelmäßiger Musikliebhaber und Konzertbesucher antworten. Nun, dann müssen Sie sich seit kurzem belehren lassen, daß Sie das Werk nicht wirklich kannten. Michael Gielen hat in Stuttgart das authentische Requiem aufgeführt, die Teile, die von Mozart nachweislich instrumentiert wurden, und siehe da, es blieb ein Torso übrig, der mitten in einer groß angelegten harmonischen Entwicklung abbricht. Für einen Wahrnehmungsschock ist also gesorgt. Haben wir Mozart 193 Jahre lang falsch gehört?

So einfach geht es in der ästhetischen Rechsprechung indes nicht ab, die Gleichung authentisch=richtig täuscht darüber hinweg, daß es Authentizität unabhängig von zeitbedingter Perspektive auf das Werk nicht geben kann. Ein Versuch, das Authentische zu definieren, stößt rasch auf Schwierigkeiten. Bedeutet es 'dem Willen des Urhebers, des Autors entsprechend'? Was Mozart betrifft, darf man guten Gewissens ausschließen, daß er sich ein Requiem vorgestellt hat, das im Lacrimosa abbricht. Die Uraufführung, die natürlich in der Süßmayr'schen Komplettierung stattfand, begründet hingegen die bis heute reichende Aufführungstradition. Und es ist ja keineswegs so, daß die Ergänzungen des Mozartschülers als völlig werkfremd empfunden worden wären. Trotz offensichtlicher Schwächen ist dem posthumen Vollender ein kongeniales Werke gelungen, das so weit über seine sonstigen Arbeiten hinausreicht, daß Musikwissenschaftler annehmen, das melodische Material der Ergänzungen müsse auf Skizzen Mozarts zurückgehen und das Requiem sei weit mehr in der Instrumentation Torso als im strukturellen Verlauf. Die Frage der Urheberschaft ist mit philologischen Mitteln nicht mehr zu klären - dürfen deshalb stilkritische Erwägungen in der Frage der Authentizität außer Acht gelassen und soll nach einer Methode des Kahlschlags verfahren werden?

Mozart ist natürlich nicht das erste Opfer 'authentischer Aufführungen'. Bruckners Sinfonien beschäftigen schon seit Jahrzehnten die Philologen. Von seinen Werken gibt es einige mit mehreren Fassungen, die alle mehr oder minder autorisiert sind. Seit kurzem sind die Erstfassungen dieser Sorgenkinder auch auf Schallplatte zugänglich, und prompt reden die Kritiker von einem neuen, revolutionären, dem einzig wahren Bruckner-Bild, das hier zu entdecken sei. Ein neues Hörerlebnis hat der Hörer zweifellos, aber unverkennbar ist ebenso, daß jenen Originalen z.T. strukturelle Stringenz und eine Art von Ökonomie mangelt, die als 'bloß konventionell' gern abgewertet wird. Wenn man bissig sein wollte, könnte man die Hochschätzung der rauhen Erstfassungen als Liebe zum Rustikal-Look entlarven. Als hätte man sich an der Vollendung der ewigen Meisterwerke sattgehört und verlange nach dem Hautgout rohen Fleisches. Das Schlagwort 'Zurück zur Natur' scheint jedenfalls vom Ruf 'Zurück zum Authentischen' nicht weit zu sein - und ist dann genauso wenig realistisch wie dieser.

Auch die Originalklangbewegung der letzten Jahre gerät früher oder später in die Aporie des Authentischen. Wir verdanken ihr einerseits einen neuen und lebendigen Zugang zur Musik der Renaissance und des Barocks, sehen auch die Klassiker in kontrastiver Beleuchtung; andererseits will die Frage nicht verstummen, ob Bach oder Beethoven mit einem modernen Hammerflügel, Ventiltrompeten oder Böhm-Flöten nicht doch zufriedener gewesen wären. Paradox erscheint ferner, das Authentische als ästhetischen Grundwert für eine Zeit in Anspruch nehmen zu wollen, der es völlig fremd war. Bach selber hat viele seiner Werke zwischen weltlicher und geistlicher Verwendung hin und hergeschoben, und daß die Besetzung je nach örtlichen Voraussetzungen modifiziert wurde, ist ein für die ganze vorklassische Musik gültiger und bekannter Grundsatz.

Das Verfechten authentischer Aufführungen würde in letzter Konsequenz dazu führen, das jeweilige Werk ein für alle Mal in seiner Entstehungszeit festzuschreiben. Es dürfte keine Erfahrungen machen, sondern ließe sich bloß als musealer Gegenstand, oft nicht weit von Kuriosität, zitieren. Daß von der wohltemperierten Zeit Bachs an bis ins atonale 20. Jahrhundert und bis in die neutonale Avantgarde eine gemeinsame musikalische Sprache gesprochen wird, rückt der Authentizitismus an den Rand, will es vielleicht sogar vergessen machen.

Werfen wir einen Blick ins 19.Jahrhundert, das vielgeschmähte. Die Aneignung kultureller Güter war hier deutlich an die eigenen Fähigkeiten und gesellschaftlichen Bedürfnisse zurückgebunden. Die gesamte Orchesterliteratur wurde in Klavierausgaben handhabbar gemacht, Symphonien und Ouvertüren auch für andere Kammermusikbesetzungen, z.B. Klaviertrio, Streichquartett, bearbeitet, von Opern gab es zahllose Potpourris und Paraphrasen - bis hinauf zum virtuosen Liszt -, und umgekehrt orchestrierte man Klavierlieder und Klavierstücke. Zwischen allen Gattungen herrschte ein reger Austausch, und niemand hätte die heutigen Skrupel ums Authentische verstanden. Gleichwohl war man keineswegs geschichtsblind, wie die Wiederentdeckung Bachs durch Mendelssohn zeigt. Ein Purist müßte dazu sophistischerweise bemerken: "man hat damals Bach gar nicht wiederentdeckt, konnte ihn gar nicht wiederentdecken, da man ihn im Stil der eigenen Zeit aufführte." Und der Skeptiker könnte darauf antworten: "Wie konnte er dann eine solche Wirkung haben, wenn er bloß eine Projektion des romantischen Zeitalters gewesen wäre? Ist nicht das Authentische, sofern es sich auf die äußere Werkgestalt und selbst noch auf die innere Intention des Autors bezieht, ephemer gegenüber ehrlichem Bemühen um Aneignung?"

Mit Aneignung allerdings ist es heute schlecht bestellt. Die Bildungsbürgerschicht mit dem obligaten Klavier und Hausmusik ist verschwunden. Statt dessen wird synthetische Pop-Musik in Walkmännern überallhin mitgenommen, und wer sich dieser Mode entzieht, den erreicht die Hintergrundmusik im Kaufhaus und Supermarkt. Musik ist allgegenwärtig, aber nur als Zitat, nicht als Resultat eigener Hervorbringung. Die meisten Titel werden ohnedies fremdsprachig gesungen und kaum verstanden. Somit steht am Ende des Strebens nach dem Authentischen oft genug Inhaltsleere und Bedeutungslosigkeit. Auf höherem Niveau ist dieses Paradox ebenso anzutreffen: im Opernbetrieb, zumal auch in Opernaufzeichnungen, wird fast ausschließlich in Originalsprache gesungen, natürlich wieder mit dem erklärten Ziel, Authentisches darzubieten. Da jedoch wohl die wenigsten Zuhörer gesungenes Italienisch oder Russisch verstehen dürften, und sich wohl auch sehr wenige die Mühe machen werden, der Handlung in einer zweisprachig textierten Partitur zu folgen, muß man annehmen, daß von all dem Aufwand der Authentizität kaum nennenswerter Nutzen gezogen werden kann. Indem das Werk zu einer sakrosankten Gestalt hochstilisiert wird, entrückt es dem Mit- und Nachvollzug des Einzelnen; sein Konsum nimmt rituelle Formen an.

Der Kult des Authentischen ist gleichbedeutend mit dem Primat des Zitats. Darüber hat man sich wenig zu wundern bei einer so alexandrinisch gelehrten, über die Historie so beliebig gebietenden, weltmusealen Zeit wie der unseren. Je leichter etwas Vergangenes reproduziert werden kann, desto unverbindlicher und massenhafter tritt es auf. Die zahllosen Zitate bringen nichts mehr mit außer ihrem Ursprungswert, ihrer Beglaubigung, aus einer bestimmten Zeit zu stammen, und diesen Wert bezeichnet man mit dem an sich bloß formalen Prädikat des Authentischen. Hinter ihm tritt der ästhetische Anspruch des jeweiligen Werkes zurück; es mag fragmentarisch und unverstanden bleiben, Hauptsache, dem Buchstaben der Überlieferung ist Genüge getan.

Der Begriff des Authentischen selbst hat eine entsprechende Entwicklung von einem Qualitätsmaßstab hin zu einer bloß formalen Kategorie im Sinne eines Herkunftsattestes gemacht. Bei Adorno lesen wir noch von Authentizität als einer gesellschaftlich vermittelten Bestätigung eines Werkes oder einer Kunst. Strawinskys "traumfeindliches Werk" sei "vom Traum der Authentizität inspiriert ..., der Angst vor der Vergeblichkeit dessen, was keine gesellschaftliche Resonanz mehr finde". Adorno glaubt, "das vollkommenste Lied Anton Weberns bleibt hinter dem einfachsten Stück der Winterreise an Authentizität zurück" (Philosophie der neuen Musik. Ullstein 1958, S. 122).

Diesen engen Begriff vom Authentischen, der eine bestimmte Art poetischer Unmittelbarkeit und individuell-kollektiver Harmonie absolut zu setzen scheint, teilen wir nicht mehr. Für uns ist das Authentische die intakte äußere Gestalt eines ansonsten zunächst nicht näher qualifizierten Kunstwerkes. In zweiter Linie bedeutet es den einer bestimmten Zeit jeweils angemessenen künstlerischen Ausdruck, stellt also eine Relation zwischen künstlerischen Subjekt und dem von seinem Umfeld vorgegebenen Anspruchsniveau dar. Das besagte Webern-Lied ist für uns daher genauso authentisch wie das Schubert-Lied, weil es sich gegenüber dem musikalischen Material der Zeit ehrlich, wahrhaftig verhält.

Da unser Vermögen der 'tätigen Aneignung' gegen Null geht, rücken uns die Ergebnisse früherer Aneignung von Kunstwerken in den Rang eigener Kunstwerke auf. In Weberns Instrumentierung Schubert'scher Tänze oder des Bach'schen Ricercare finden wir heute nur Webern, Schönbergs Salonorchester-Bearbeitungen von Strauß-Walzern sind qua heutiger Seltenheit dieser Besetzung zu einem Genre für sich geworden, und Schönbergs Meinung, seine Orchestrierung von Brahms's g-Moll- Klavierquartett sei im wesentlichen stilrein, erscheint uns als vorsätzliche Täuschung; notabene führt uns diese Orchesterfassung vor, wie man symphonische Musik im 19.Jahrhundert (aus dem Schönberg ja stammt) hörte und spielte, denn an der nichtsymphonischen Vorlage entlarven sich die instrumentatorischen Mittel sehr deutlich, die Behandlung tritt gegenüber dem Inhalt hervor. Hier ist im Großen praktiziert, was Mahler, Weingartner, noch Klemperer u.a. als Retouchen in klassischer Symphonik anbrachten.

Authentizität ist justitiabel geworden. Die Ausarbeitung des Urheberrechts führt dazu, daß bereits eine Edition eines an sich gemeinfreien Werkes ein geschütztes Werk darstellt, dessen Vervielfältigung, auch durch bloßes Abschreiben (was übrigens eine ausgezeichnete Form der Aneignung wäre), verboten wird. Die Tendenz besteht, daß jedem Kunstwerk im rechtlichen Sinne auch Authentizität im ästhetischen Sinne zugebilligt wird.

Welchen Sinn hat nun dieser merkwürdige Kult des Authentischen? Doch wohl den, Werke der Vergangenheit unverändert zu bewahren, um sie der eigenen Zeit als fremden Maßstab entgegenhalten zu können. Es ist ein Prozeß der Selbstdisziplinierung der kulturellen Menschheit, ähnlich einem Studenten der Philologie, der im Grundkurs das Zitieren lernen muß. Die Philologie hatte auch als erste Disziplin das Bedürfnis nach Authentizität. Der Entschluß, ein literarisches Werk einmal nur als die Summe seiner Buchstaben aufzufassen, kam gleichwohl relativ spät, und erst im Laufe des 19. Jahrhunderts begann man, die literarische Überlieferung unter dem Gesichtspunkt des Authentischen zu betrachten, die historisch-kritische Ausgabe entstand. Auffällig ist dabei ein Detail der Terminologie der Editionswissenschaft: eine authentische Textwiedergabe nennt man nicht authentisch, sondern 'diplomatisch'. Offensichtlich war in der Diplomatie früh Bedarf an verbindlichen, verläßlichen Texten.

Ein sarkastischer Beobachter findet ohne Zweifel, daß unsere Zeit über dem genauen Zitieren gar keinen originären künstlerischen Beitrag zu leisten vermag. Man hört und sieht und liest allenthalben Collagen, Montagen, Synthesen, eine endlose Reihe des deja vu. Sind wir tatsächlich nur die Hohlform, in die Vergangenes inkorporiert wird?

Unsere Zeit scheint zu einer eigenen künstlerischen Signatur durch die Entwicklung der Reproduktionstechniken zu kommen. Die Reproduktionsverfahren sind Erfüllung, um nicht zu sagen Exzeß des Kultes des Authentischen; sie dienen dem kulturellen Umgang gleichsam schon als regulative Idee. So exakt Ansichten wiedergeben wollen wie eine Fotografie, so naturgetreu Musik zum Klingen bringen wollen wie eine High-Fidelity-Anlage, so unbestechlich Geschichte schreiben zu wollen wie ein Tonband - das ist heute ein faszinierender Anspruch. Die Musiker fürchten das auch bereits, denn sie werden an ihren Schallplatten gemessen, und es kann leicht vorkommen, daß einer dabei dem Bild von sich nicht mehr entspricht. Er selbst wird dann als weniger authentisch empfunden als seine Aufzeichnungen. Hier überholt der Kult des Authentischen noch den, der ihn speist.

Das authentische und das reproduzierte Kunstwerk sind zwei Seiten derselben Medaille; insoweit ist W. Benjamins Entwurf zum technisch reproduzierten Kunstwerk zu ergänzen. Solange jeder rezeptive Akt konstitutiv mit einem produktiven Akt verbunden war, sei es, daß der Hörer Musik selbst macht, oder daß sie in einem Konzert aufgeführt wird, dominierte die aktuelle Gestalt eines Werkes gegenüber ihrem textuellen Substrat. Die künstlerische Lauterkeit der Ausführenden war wichtiger als die Textphilologie, das Wie bedeutsamer als das Was. Diese Zeit bescherte uns u.a. eine lange Reihe großer Dirigentenpersönlichkeiten, deren Ausdrucksvermögen uns heute unerreichbar erscheint.

Beim reproduzierten Werk ist der rezeptive Akt unabhängig von aller Produktion. Es wird daher auf sich selbst als seinem eigenen Maßstab zurückgeworfen. Authentisch heißt nur noch: mit sich selbst identisch. Was dieses Selbst dann ist, kann nicht mehr gefragt werden. Und so kriecht man auf der Suche nach der Wahrheit des Werkes immer tiefer in den Text hinein, wo man aber naturgemaß nur Korrektheit finden kann.

Als Medium der Reproduktion bestimmt die Technik den Umgang mit dem Werk. Bei technischer Reproduktion läßt sich der Grad an Authentizität, d.h. Originaltreue, oft schon in Prozenten angeben. Der Klirrfaktor etwa bezeichnet die Menge der im Übertragungsweg hinzukommenden Verzerrungen; ebenso hat die Dynamik Zahlengestalt. Anders ausgedrückt: durch die Technik wird Authentizität zu einem quantitativ lösbaren Problem.

Dies ist der Tatbestand, den kein kulturkritisches Lamento aus der Welt schaffen kann. Man muß auch sehen, daß mit der Perfektion der Reproduktion durchaus neue Möglichkeiten entstehen, mit einem Kunstwerk umzugehen und es sich anzuverwandeln. Mit Perfektion ist hier im Wesentlichen das Stadium der Digitalisierung gemeint. Die Beispiele, die man für diesen Prozeß jetzt schon geben kann, wirken, wie ästhetische Zukunftspläne stets, etwas dürftig und vordergründig programmatisch.

So werden sich aus einem computergespeicherten Roman mit Knopfdruck beliebige Wörter austauschen, Sätze und Absätze umstellen, einfügen, löschen lassen. Im Film sind Trickverwandlungen tägliches Brot, und was die Musik angeht, können menschliche Stimmen den Charakter beliebiger Instrumente annehmen, oder man kann Caruso ein modernes Orchester unterlegen. Die Digitalisierung bedeutet aber eine umfassendere und tiefer gehende Veränderung, und der Verfasser wird sie in einem eigenen Essay untersuchen.

Das Authentische wird, da von den Apparaten mühelos bereitgestellt und ermöglicht, selbstverständlich und wertlos. Der ganze Fundus der Überlieferung ist damit zur Aneignung wieder freigegeben. Wir möchten nicht in den Fehler verfallen, dies zur Chance einer Demokratisierung im ästhetischen Bereich zu erklären, wie man dies bei der Einführung von Rundfunk und Fernsehen getan hat. Die Rollenverteilung zwischen Produzent und Konsument wird grundsätzlich erhalten bleiben. Der Umgang mit den authentisch dargestellten Werken der Vergangenheit könnte jedoch etwas spielerischer werden, weniger ernsthaft wohl auch - so, wie wenn man einen Film im Fernsehen viel gedankenloser konsumiert als im Kino - und die Verfahren der Repräsentation und Manipulation mögen ein Übergewicht über das gewinnen, was wir heute den Inhalt nennen. Das ist ein ganz normaler Vorgang, denn jede spätere Zeit steht auf einem immer höher werdenen Berg von Geschichte, die irgendwie eingegliedert sein will. Die Anliegen müssen verblassen, formale Aspekte bleiben übrig.

Gerhard Bachleitner